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Rudolf Lavant: Weihnachten zweier Glücklichen (Rudolf Lavant)

brannte, und am nächsten Morgen stand er, obgleich noch immer größeren Strapazen nicht gewachsen, in voller Marschausrüstung vor Felice, um Abschied zu nehmen. Sie verstand ihn ohne Zweifel, denn sie war weder überrascht, noch machte sie einen Versuch, ihn zu halten. Als er ihr beide Hände hinhielt und ihr für alle ihm erwiesene Güte und Freundschaft, die er nie vergessen werde, mit ein wenig bebender Stimme dankte, schimmerte es feucht in ihren Augen, aber sie begnügte sich, seinen Händedruck mit schmerzlicher Innigkeit zu erwidern, sie sah ihm wie eine Statue nach, bis er auf dem Wege nach Santa Lucia, dem Monte Giacu und Cortina d’Ampezzo ihren Blicken verschwunden war, und sie brach erst dann in heiße, schier unstillbare Thränen und krampfhaftes Schluchzen aus, als sie auf dem Tisch seines Zimmerchens den Strauß von Edelweiß, Alpenrosen und Enzian fand, den Robert bei seiner Ankunft auf dem Hute getragen hatte, und unter demselben eine Bleistiftzeichnung, eine saubere Skizze des Landschaftsbildes, das er täglich von seinem Fenster aus vor Augen gehabt. Unter derselben stand: „Seiner lieben, tapfern jungen Freundin Felice, als Unterpfand unvergänglichen treuen Angedenkens gewidmet von ihrem Kameraden Robert.“

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Es war Winter geworden in den Bergen, und die Schleppe der Schneemäntel, in die sich alle die zackigen, zerklüfteten Dolomitenriesen gehüllt, schleiften bereits die Thalsohle und Nachts heulte der Sturm, als käme alles Leid und aller Grimm und Zorn der Erde in ihm zu Wort. Von den Almen herab tönte nicht mehr das melodische Geläut der Herdenglocken, die zauberisch klaren Fernsichten des Spätsommers und Herbstes waren wie ausgelöscht und kein Bergsteiger hätte mehr seine Rechnung gefunden. Dennoch trat am Christabend um die Mittagszeit ein Wanderer, der trotz der Gebirgstracht nicht gut ein Sohn der Berge sein konnte, aus der Sottoguda-Schlucht und schritt in ungeduldigstem Tempo

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Rudolf Lavant: Weihnachten zweier Glücklichen (Rudolf Lavant). Druck und Verlag J.H.W. Dietz, Hamburg 1887, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Illustrirtes_Unterhaltungsblatt_25_12_1887_Seite_3.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)