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Reinisch, der ebenfalls stutzt und befremdet aufhorcht, sieht seinen Freund tödtlich erbleichen, – sie blicken einander an und einer liest in des andern Blick dieselbe Frage: „Leontine – hier?“ Curt legt die Hand vor die Augen und lauscht mit verhaltenem Athem wie verzaubert hinüber; als die Sängerin verstummt und Tatjana sich zu ihm niederbeugt und schmeichelnd sagt: „Das war ja polnisch? Aber es war ein schönes Lied und es lag Seele in dem Gesang!“ erwiderte er hastig und wie abwesend: „Das schönste, das ich kenne!“ und springt auf, als sei ihm seine Lage bis zur Unleidlichkeit unbequem geworden. Er wendet sich zum Maler, der ebenfalls aufgesprungen ist, zieht ihn auf die Seite, flüstert ihm in fliegender Hast zu: „Sie war es – kein Zweifel – ich muß fort!“ und tritt ins Gebüsch. Da liegt unter überhängenden Weiden, im tiefsten Schatten und kaum kenntlich, das kleine Boot, das er ruderte, während Tatjana am Steuer saß; leise löst er die Kette, springt mit dem ganzen Ungestüm der Sehnsucht hinab ins Boot, und das laute Gelächter, mit welchem die Gesellschaft eine witzige Bemerkung Tatjanas begleitet, verschlingt das schwache Geräusch der Ruderschläge, mit dem er die Nußschale vorwärts treibt. Bis zur Einmündung in den Hauptarm muß er seine Ungeduld zügeln; ein niederhängender Zweig reißt ihm den leichten Sommerhut vom Kopfe – er achtet es nicht und nimmt sich nicht die Mühe, ihn aufzufischen. Dann ist er im breiten Fahrwasser, und nun schießt das Boot so hastig dahin, daß die Welle rauschend am Kiel aufschäumt; es ist alles dunkel auf der Wasserstraße zwischen den bewaldeten Ufern, und kein Laut ist zu vernehmen, keine Laterne wirft vor oder hinter ihm ihren hellen Lichtstreif auf die Flut und Curt fragt sich erschrocken, ob das Boot, welches er sucht, nicht vielleicht, statt auf der Rückfahrt nach der Stadt, auf der Fahrt nach einem noch weiter hinaus am Flusse liegenden Dorfe begriffen war, und ob es ihm, wenn er der Gesellschaft nach dieser Richtung nachsetzte, auch gelingen würde, sie noch unterhalb des Landungsplatzes einzuholen; wo sollte er sie, wenn man bereits ausgestiegen war, in dem großen Dorfe suchen? Und wenn sie nun doch auf der Heimfahrt sind, wenn er bei Aufgeben der Verfolgung grade die verkehrte Richtung einschlägt? Kalte Schweißperlen treten ihm auf die Stirn; von den beiden Rudern, die er eingezogen hat, rieselt und tropft das Wasser und seine Augen suchen vergebens die Dunkelheit zu durchdringen, denn der Mond hat sich längst wieder in Wolken und Dunst geborgen. Da plötzlich flammt es in geringer Entfernung blendend auf, und mit einem Zauberschlag erstrahlen Fluß und Ufer in grünem, magischen Lichte; es ist mit einemmale so hell, daß man die Blätter an den Bäumen zählen könnte, und in dem Boot, auf dessen Stirn man eben das Grünfeuer entzündet hat, ist jedes einzelne Gesicht genau zu erkennen; es ist ein großes Boot, voller Herren in Hemdärmeln und Damen in hellen Sommerkleidern, – nur eine hohe, schlanke weibliche Gestalt in dunklem Gewand ist zu unterscheiden, und er glaubt sie zu erkennen. Das Herz schlägt ihm bis herauf an den Hals, aber die Gestalt kehrt ihm grade den Rücken zu, und ehe sie sich gewendet, ehe sie ihm den entscheidenden Blick in ihr Gesicht gestattet, verschwindet das grüne Licht und noch tieferes Dunkel als vorher verschlingt das Boot. Dasselbe fährt aber nicht weiter, er würde ja sonst den Ruderschlag hören; ab und zu erreichen ein paar gedämpfte Worte, ein Ausruf des Entzückens über die prachtvolle Nacht sein angstvoll lauschendes Ohr, und so vergehen qualvolle Minuten, bis es plötzlich drüben wieder aufflammt und Flut und Ufer und Wald mit purpurnem Schein übergießt. Und diesmal hat er Leontine erkannt; sie steht im Boot, einen Epheukranz im Haar, schön wie einst, nur ernster und frauenhafter, und ein Aufschrei will sich Curts Brust entringen; aber mit übermenschlicher Anstrengung unterdrückt er ihn, – er muß ja alles vermeiden, was auf ihn aufmerksam machen, was Leontine vielleicht zu neuer Flucht vor ihm bestimmen könnte, und als die rothe Helle versunken ist und das große Boot, jetzt mit einer Laterne versehen, seine Heimfahrt fortsetzt, überholt er dasselbe, indem er sich hart am entgegen gesetzten Ufer hält; er schlüpft unbemerkt vorüber und geht vom Landungsplatz aus am Ufer dem großen Boot entgegen, das langsam und vorsichtig die niedrigen Brücken der Vorstadt passirt. Man vernimmt bei der tiefen Stille jedes Wort, das im Boote gesprochen wird, aber die Stimme Leontinens läßt sich nicht vernehmen; schweigsam und in sich versunken, die Hände im Schoße lässig gefaltet, sitzt sie allein am Stern, und die Laterne wirft zuweilen ein helles Streiflicht auf das schöne, vornehme, nachdenkliche Gesicht. Als die Gesellschaft ausgestiegen ist und in kleinen Gruppen den Heimweg antritt, folgt Curt vorsichtig in angemessener Entfernung und erst, als die Hausthür hinter Leontine und der Familie, deren Gast sie zu sein scheint, ins Schloß gefallen ist, erst als er über den Namen der Straße und die Nummer des Hauses sich Gewißheit verschafft hat, tritt er langsam, zögernd

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Rudolf Lavant: Idealisten. , Leipzig 1880, Seite 624. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_52_67.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)