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viereckigen Ausschnitt gelichtet und erst jenseits desselben beginnt wieder dichtes Nadelholz. Und nun beginnt ein reges Leben; farbige Papierlaternen werden an den untersten Zweigen der Bäume befestigt, Plaids und Reisedecken werden auf dem Boden ausgebreitet und man lagert nach Laune bunt und malerisch durcheinander. Tatjana hat für alles gesorgt und aus großen Körben kommen alle Bestandtheile eines opulenten Pikniks zum Vorschein und werden auf Servietten ausgebreitet. Tatjana ist so freundlich, zu bemerken, daß Curt ihr gegenüber sehr unbequem sitze, und sie fordert ihn auf, an ihre Seite zu kommen und den Kopf ohne Umstände auf ihr Knie zu legen, wie das ihr Bruder bei seiner Mutter thue. Hat Curt Mitleid mit der Eifersucht der andern oder ist überhaupt die Vertraulichkeit nicht nach seinem Sinn? Er lehnt dankend ab, aber dieser Dank – klingt er nicht ein wenig spöttisch? Tatjana scheint es zu finden – sie zuckt unmuthig die Achseln, wirft die Lippen auf und wendet sich an Wendt, der am Stamm eines Baumes lehnt und einem Fasanenflügel alle Ehre angedeihen läßt, mit der Frage:

„Ist das nicht eine hübsche Einweihung der neuen Wasserpartieepoche? O, wir werden bis zum Herbst noch oft fahren, wenigstens einmal jede Woche!“

Die Antwort ist artig, aber – niederschlagend: „Ich fürchte, es wird mir nicht vergönnt sein, gnädiges Fräulein, an diesen Wasserfahrten theilzunehmen, denn ich fange eben an, mich auf mein zweites Examen vorzubereiten und da heißt es jede freie Stunde zusammenzunehmen und fleißig zu sein – ochsen nennt das der deutsche Student, ochsen oder büffeln!“

„Nun, dann nach Ueberwindung dieses wichtigen Examens, das Ihnen ja sehr am Herzen zu liegen scheint,“ erwiderte das schöne Mädchen, ihr Glas an die Lippen führend. „Sie haben schließlich auch weniger Empfänglichkeit für den poetischen Reiz solcher Fahrten, als Herr Born, der sie nach ihrem vollen Werthe zu würdigen weiß.“

Born verbeugt sich dankend, stößt aber dann heraus:

„Auch ich werde leider verzichten müssen, da ich nur noch wenige Tage hier bin; man hat mich als literarisch-dramaturgischer Beirath an die Bühne meiner Vaterstadt berufen und ich muß schon Ende dieses Monats in der Heimat sein, nach der es mich zu oft gezogen hat, als daß mir diese Wendung nicht willkommen sein müßte!“

Tatjana sieht betroffen auf – soll die Fahnenflucht unter ihren Verehrern noch weiter um sich greifen? Es klingt aber doch ziemlich übermüthig und nur wie ein Scherz, als sie sich zu Lindner wendend, fragt:

„Da gehen Sie schließlich auch noch Ihrer Wege, Herr Lindner?“

Der Angeredete spießt eben mit der Gabel ein Butterbrod an und erwidert:

„Obgleich ich kein Bühnenschriftsteller bin und meine einzige literarische Sünde ein Triumphgesang der Mäuse auf den Tod eines alten Uhus ist – ja, ich gehe auch fort, um eine Stellung in einer chemischen Fabrik einzunehmen, die eine von mir erfundene Farbe herstellen wird.“

„Und übers Jahr heiratet man, nicht wahr?“ Das klingt entschieden spitzig und beinahe feindselig, aber Lindner erwiderte trocken und mit naivster Unbefangenheit:

„Das kann wohl so kommen – wer möchte denn ein alter Junggesell werden? Dazu tauge ich nicht.“

„Ich muß sagen, die Herren haben sich während meiner kurzen Abwesenheit allerlei Ueberraschungen präparirt – das geht ja alles im Galopp und nun fehlte blos noch, daß mir jemand seine in der Zwischenzeit erfolgte Verlobung anzeigte, etwa – Herr Reinisch.“

Der Maler, der eben mit Curt anstößt, erwidert launig:

„O nein, gnädiges Fräulein, Sie trauen mir altem Knaben da mehr Leichtsinn zu, als ich mir bewahrt habe. Aber ich bewundre Ihre divinatorische Gabe – es ist wirklich ein glücklicher Bräutigam unter uns –“

„Der sich dieser Tage die Freiheit nehmen wird, Ihnen seine Braut vorzustellen,“ ergänzt Arvenberg mit einer Verbeugung. „Meine Braut wird sich sehr freuen, Sie, gnädiges Fräulein, kennen zu lernen.“

„Auch Sie also haben sich verloben lassen – ah! das ist nicht schön von Ihnen! Wissen Sie, daß ich diese von den beiderseitigen verehrten Eltern ins Reine gebrachten Heiraten, bei denen man die jungen Leute kaum fragt, gründlich verabscheue? Freilich, bei Ihrem Volke hat das dumme Herz nie etwas dreinzureden gehabt, wenn der kalte, nüchterne Verstand seine Beschlüsse faßte!“ erwiderte Tatjana nicht ohne Bitterkeit.

„Sie irren, gnädiges Fräulein,“ gab Arvenberg zurück, „so liegen die Dinge keineswegs, denn Kopf und Herz haben sich in meinem Falle prachtvoll vertragen. Diesmal sind eine Jüdin und ein Jude aus wahrer Herzensneigung einig geworden, ohne daß die Aeltern davon eine Ahnung hätten, und die letzteren haben die bereits mit Hand und Mund besiegelte Verbindung eben nur zu sanktioniren gehabt.“

Diese Erklärung wurde bei aller Verbindlichkeit in so ernstem Tone abgegeben, daß Tatjana den Sprecher betroffen ansieht. Sie hatte gleich am ersten Abend eine große Vorliebe für ihn gefaßt, sein feines, etwas sarkastisches und ironisches Lächeln hatte ihr zugesagt und sie war ungewöhnlich freundlich gegen ihn gewesen. Gerade ihn glaubte sie gefesselt zu haben, und daß er nun aus purer Neigung eine Verbindung eingeht, daß es ihr und all ihrer verheißungsvollen Liebenswürdigkeit nicht gelungen ist, diese Neigung im Keime zu zerstören, ist eine solche Demüthigung für ihren Stolz, daß sie sich förmlich gekränkt fühlt und Arvenbergs Erklärung nur mit einem Achselzucken beantwortet.

Die Freunde werden für ihren Mangel an Wesensähnlichkeit mit dem Ritter Toggenburg dadurch bestraft, daß Tatjana sie kaum noch zu sehen scheint; sie wendet ihre ganze Aufmerksamkeit Curt zu. Er ist der letzte von ihren Kavalieren und obendrein der einzige, für den sie sich ernstlich interessirt und in dessen Nähe eine gewissen Bangigkeit über sie kommt, die etwas seltsam Beunruhigendes und doch auch wieder Wohlthuendes für sie hat. Aber es will nicht so recht gelingen, Curt gesprächig zu machen; er ist allmälich in träumerische Zerstreutheit verfallen, lauscht immer wieder hinaus in die schweigende Nacht und wirft ab und zu mit einer raschen Bewegung des Kopfs die kleine schwarzbraune Locke zurück, die ihm in die Stirn gefallen ist; seine Gedanken sind sicherlich auf einer Wanderung in weit zurückliegende Zeiten und an entlegene Orte begriffen und jedenfalls haben sie recht sehr wenig mit dem schönen Mädchen zu schaffen, das anfängt, allmälich einen sanften, bittenden Ton in die Fragen zu legen, welche sie an ihn richtet und auf die er oft nur durch ein zerstreutes Lächeln Antwort gibt. In Tatjanas ganzem Wesen liegt eine gewisse weiche, schmachtende Lässigkeit; sie weiß es so einzurichten, daß ihre langsam niedersinkende Hand wie zufällig auf die Curts zu liegen kommt und sie jubelt innerlich auf, als diese Hand ruhig liegen bleibt; sie hat aber doch zu früh im Vorgefühl des Triumphs geschwelgt, denn statt daß Curts Finger, durch ihr Entgegenkommen ermuthigt, sich zu verstohlenem festem Druck um die ihrigen schließen, bleibt seine Hand regungslos im Grase liegen und als Tatjana ihre kleine, heiße Rechte zurückzieht und nach einiger Zeit das kleine Manöver wiederholt, findet sie die Hand Curts nicht mehr vor, wie sie auch vorsichtig umhertastet, und Curt blickt unverwandt nicht nach ihr, sondern nach dem schwarzen Wasserspiegel, in welchem ein einsamer Stern sich zitternd spiegelt. Es überkommt sie wie eine Regung wilder Leidenschaftlichkeit; soll sie ihre Arme um den Nacken des Unempfindlichen schlingen und ihn vor allen Leuten auf Stirn und Scheitel, auf Mund und Wangen und Augen küssen, bis er selber warm und zärtlich wird und mit heißen Lippen ihren Namen flüstert, oder soll sie aufspringen und zornig mit dem Fuße stampfen und ihm zuraunen: „Deutscher Tölpel!?“ Da – was ist das? Von der breiten Wasserstraße herüber kommt durch die nächtliche Stille Gesang von Frauenstimmen; vielleicht singen sie garnicht so besonders gut, aber in todtstiller Mitternacht im Walde, auf dem Wasser, bei feuchter Luft klingt ein nur erträglich gesungenes Lied schon ergreifend.

Das stimmungsvolle Lied erscheint der Ungeduld der siegverwöhnten Russin als ein vom Zufall gesandter Bundesgenosse gegen Curt; sie macht ihn durch eine Handbewegung auf den zarten Gesang aufmerksam, der übers Wasser und durch den Wald seinen Weg zu ihm sucht. Und die Rechnung scheint zu stimmen; Curt nickt ihr dankend zu, stützt den Kopf in die Hand und lauscht auf die lieblich-wehmüthige Weise. Das Lied verstummt, – nur der schwache Hauch des Nachtwinds geht wieder flüsternd durch die Zweige, und schon will sich Curt abwenden, da zuckt er plötzlich zusammen, denn jetzt erklingt klar und voll und ergreifend eine Frauenstimme, eine Stimme, die er bis an sein Lebensende nicht vergessen wird, und sie singt die gramschwere polnische Todtenklage, die er nur einmal, die er nur von einer gehört:

„Es fallen die Blätter vom Baume, die langsam entsprossen sind;
Hinter den Scheuern singen die kleinen Herbstvögel...“

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Idealisten. , Leipzig 1880, Seite 623. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_52_66.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)