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hinaus in die Nacht, – so wendete ich mich an Leontine mit der Bitte, uns auch etwas zu singen, aber beileibe nichts Trauriges; ich hätte fürs Leben gern selber etwas Lustiges oder wenigstens Lebensfrohes zum besten gegeben, aber meine Stimme hat ja, wie ihr wißt, zu allen Zeiten der heisersten Krähe im Krähen Konkurrenz gemacht, – daran war also nicht zu denken. Das schöne Mädchen zuckte die Achseln und erwiderte beinahe schwermüthig:

„‚Ich würde ganz gern etwas singen, aber ich weiß nur traurige Lieder und die können Sie ja nicht brauchen.‘

„In dem konventionellen: ‚Ach bitte, Fräulein, singen Sie – gleichgiltig was!‘, das in allen Tonarten von den Damen vorgebracht wurde, lag in diesem Falle vermuthlich einmal Wahrheit; das volle, klangreiche, tönende Organ Leontinens konnte wohl das Vorurtheil erwecken, daß sie ungewöhnlich schön singen müsse, und ich war selber neugierig. Ich zog also meine Bedingung zurück und Leontine wandte sich an Curt, der neben ihr im langen Waldgras lag, den einen Arm aufgestemmt und den Kopf in die Hand gestützt. ‚Soll ich?‘ fragte sie, und er hauchte zurück: ‚Gewiß, Lieb!‘

„Es war ein polnisches Lied, das Leontine nun sang, ein klagendes, tieftrauriges Lied, aber diese Trauer hatte nichts Weichliches und Süßliches; es war die erhabene Traurigkeit einer starken Seele, und die Klage klang nicht wie die um eignes kleines Weh, sondern wie die um den Sturz eines Reichs, um den Untergang einer für die Freiheit sterbenden Heldenschaar.

‚Es fallen die Blätter vom Baume, die langsam entsprossen sind;
Hinter den Scheuern singen die kleinen Herbstvögel.‘ ...

mehr habe ich mir nicht gemerkt, aber was kommt auch auf die Worte an? Die Melodie, obgleich ich sie sofort wiedererkennen würde, hat mein musikalisches Ohr nicht behalten; doch hätte ich selber die Noten, es würde mir doch niemand das Lied so singen, wie ich es in jener Nacht von dem merkwürdigen Mädchen singen hörte. Leontine hatte drei Strophen gesungen, mitten in der vierten brach sie plötzlich ab und erklärte, aufhören zu müssen; das Lied gehe ihr zu nahe und sie habe sich doch zuviel zugetraut. Ich konnte ihr, als sie das ziemlich mühsam sagte, zufällig gerade ins Gesicht sehen – an ihren langen Wimpern hingen zwei schwere Thränen; ob Curt dieselbe Wahrnehmung gemacht hatte? Er beugte sich nieder und küßte ihr leise die Hand. –

„Später sah ich, wie sie dem müde gewordenen kleinen Rudolf mit einem Ausdruck von fast mütterlicher Zärtlichkeit das schwarze Gelock aus der weißen Stirn strich und einen Kuß auf seinen frischen, schön geschnittenen Mund hauchte, und ich hörte, wie er schlaftrunken fragte: ‚Nicht wahr, Tante, der Offizier auf dem schwarzen Pferde ist dein Mann?‘ Ich konnte nicht sehen, ob die naive Frage ihr Gesicht höher färbte, ich hörte nur, wie sie leise und traurig antwortete: ‚O nein, mein lieber Junge – wo denkst du hin?‘ und wie er mit schon zufallenden Augen lallte: ‚Ach – das ist – recht schade!‘ und dann den hübschen, charakteristischen Kopf in ihren Schoß sinken ließ. Immer wieder glitt Leontinens kleine, schmale, weiße Hand schmeichelnd über das Köpfchen des kleinen Schläfers, und in ihrer ganzen Haltung, in der leichten Neigung des schönen Kopfes besonders lag soviel unbewußte mütterliche Zärtlichkeit, daß ich denken mußte: ‚Du bist dazu geboren, in der Liebe zu einem Manne und zu deinen und seinen Kindern aufzugehen, und du willst dir dieses Glück eigenwillig versagen? Geh doch – das ist Unnatur!‘

„Mitternacht war vorüber, als ich in rascher Folge drei Raketen steigen ließ – das verabredete Zeichen für die Leute im Forsthaus, daß der Aufbruch erfolgen solle. Man kam denn auch bald mit Laternen, die Wagen tauchten dahinter auf und Jehan führte Trelawney vor. Leontine stand auf und sah sich lange aufmerksam im Kreise um; – wurde ihr der Abschied so schwer, wollte sie das Bild des Hügels im Buchenwald ihrer Erinnerung für alle Zeiten tief einprägen? Dann riß sie sich mit einer raschen Bewegung los und ging festen Schrittes auf Curt zu, der sie nach dem Wagen führte. Er hatte schon den Fuß in den Steigbügel gesetzt, als mir einfiel, daß ich gar keine Verwendung für den kleinen Ludolf gehabt hatte, und ich flüsterte ihm zu: ‚Wie schade, daß wir die Verlobung nicht proklamiren können, – oder sind Sie soweit und darf das der Schluß sein?‘

„‚Keine Übereilung!‘ gab Curt gedämpft zurück. ‚Ich glaube beinahe, ich habe gewonnen, aber durch eine Unbesonnenheit könnten wir alles wieder verderben!‘

„Damit schwang er sich in den Sattel und die kleine Kavalkade setzte sich langsam in Bewegung; es war noch immer sehr schwül, nur ab und zu fächelte uns ein lauer Wind die heißen Wangen; als wir den Waldsaum erreichten und die Leute des Försters sich verabschiedeten, flog ein mattes, rosiges Wetterleuchten über den nachtschwarzen Himmel, und häufiger und häufiger, länger und länger schlug dann die rothe Lohe über den dunkeln Grund; es fielen verstreute, schwere Regentropfen, der Donner murrte und grollte aus der Ferne, das Leuchten ward zu fernen Blitzen, und zuletzt wollte der Himmel sich gar nicht mehr zuthun. Leontine war im Wagen aufgestanden, hatte ein Knie auf das Polster gelegt und mit der linken Hand das zurückgeschlagene Verdeck erfaßt, und so sah sie entblößten Hauptes mit leuchtenden Augen unverwandt hinaus in die Nacht, nur ab und zu ein Wort mit Curt wechselnd, der neben dem Schlag hertrabte und dessen Auge bewundernd und mit einer Art von wilder Zärtlichkeit an ihrer Gestalt hing. Es war eine düster-schöne Fahrt; die Kutscher ließen die Pferde laufen, was sie laufen konnten, man unterhielt sich nur einsilbig und flüsternd und viertelstundenlang war nichts zu hören, als Hufschlag, Schnauben und Schweifflattern der Pferde und der schmeichelnden, antreibende Zuruf der Kutscher. Als dann der helle Dunstkreis, der über der Stadt lagerte, intensiver ward, als lange Lichterreihen deutlich hervortraten und wir die Gewißheit hatten, trocken unser Ziel zu erreichen, gab Leontine ihren Posten auf, drückte sich wieder in die Kissen und zog den dichten, schwarzen Schleier vors Gesicht; als der Lombarde am Ziel war und mit seiner Verlobten abstieg, hörte ich diese sagen, es sei doch recht gut, daß man nicht noch naß geworden sei, worauf Leontine erwiderte: ‚Daran hab’ ich garnicht gedacht; ich hätte so die ganze Nacht durchfahren mögen: bei Sturm und Wetter regt sich das Kind des Waldes in mir.‘

„Wir setzten den Badenser und den Ungarn vor ihren Hausthüren ab; Leontine beugte sich noch einmal über ihren schlummernden kleinen Ritter und berührte sein schwarzes Lockenhaar mit den Lippen und dann schwang sich Curt vom Pferde, Leontine stieg aus und die Wagen rollten davon, während Jehan Trelawney wegführte. Nur ich saß noch in meinem Wagen, zwischen den Körben voll Geschirr und Tischzeug, zwischen meinen bunten Lampions und all’ dem Krimskrams, der so nothwendig gewesen und jetzt so überflüssig und lästig war. Curt fragte gleichmüthig: ‚Wie wär’s, wenn Sie übermorgen nach dem Bahnhof kämen? Wir werden bestimmt mit dem Mittagszuge von Theresienstadt wieder eintreffen.‘ Er wollte also keinen Abschied unter vier Augen, kein ernstes, gerührtes Lebewohl, und so schwer mir das Herz war, ich mußte mich fügen. Er drückte mir die Hand mit festem, langen Druck, sagte gelassen: ‚Gute Nacht denn, lieber Reinisch!‘ und war gleich darauf mit Leontine in der Dunkelheit verschwunden.

„Ich kann euch wohl sagen, ich war recht froh, als ich all’ meinen Kram los war und mich nachhause fahren lassen konnte. Aber schlafen konnte ich nicht, obgleich ich so müde war, daß mir Kniee und Hände zitterten. Es kam mir unerträglich schwül vor; ich riß die beiden Fensterflügel auf und ließ die Nachtluft hereinströmen. Drüben war alles still und dunkel, aber eben kamen die beiden langsam die Straße herauf, und als sie an der Thür zum Treppenaufgang ihres Flügels stehen blieben, trat ich unwillkürlich vom Fenster zurück; es kam mir indiskret vor, Zeuge eines Abschieds zu werden, der vielleicht ein Abschied auf ewig war. Ich wartete ein paar Minuten; als ich wieder ans Fenster trat, waren die beiden verschwunden und der einzige Laut, den ich vernahm, war das anmuthig-eintönige Plätschern eines Springbrunnens im Garten eines Nachbarhauses. Der Himmel glühte noch immer ab und zu in rosigem Schein auf, aber kein Regentropfen fiel, und als ich mich schwerathmend und mit geöffnetem Halskragen auf meinen Divan warf, war mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen: ‚Das ist so recht eine Nacht für stumme, heiße, leidenschaftliche Liebe, eine Nacht für lodernde Küsse und warme Thränen!‘

„Ich war wirklich erschöpft gewesen und ich habe lange geschlafen; es war wohl neun Uhr, als ich energisch an meine Thür klopfen hörte, und als ich aufspringend: ‚Herein!‘ rief, stand ich dem treuen Jehan gegenüber, der mir in militärischer Straffheit ein Billet seines Herrn überreichte, welches nur wenige mit Bleistift flüchtig hingeworfene Worte enthielt, Worte freilich, die es wohl rechtfertigten, daß ich den Kopf momentan zwischen beide Hände nahm. Curt schrieb:

‚Tun Sie mir die Liebe und gehen Sie für mich auf den

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Idealisten. , Leipzig 1880, Seite 606. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_51_59.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)