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erzählen an der Unglücksgeschichte. Zu den serbischen Volksliedern also!“

Man verzichtete diesmal darauf, gegen das Abbrechen der Erzählung zu protestiren, da man Reinisch’s Hartnäckigkeit in dieser Hinsicht kannte, Arvenberg nahm die Volkslieder zur Hand und begann vorzulesen, und er würde vielleicht nicht so bald innegehalten haben, wenn der Maler nicht endlich nach der Uhr gesehen und verkündet hätte:

„Ein Uhr! Jetzt ist’s genug – seht ihr übrigens nicht, daß Born, der schon den ganzen Abend drein geschaut hat wie der melancholische Dänenprinz, allmälich in eine Gemüthsverfassung gerathen ist, die für sämmtliche Personen des Dramas, an dem er jetzt schreibt, das Schlimmste befürchten läßt?“

„Es ist aber auch wahr, Born,“ sekundirte Arvenberg, „Sie lassen die Unterlippe hängen, wie die eine Hexe im Märchen von Dornröschen und sehen aus, als hätten Ihnen die Hühner das Brod genommen oder als hätten Sie Lieb’ im Leibe.“

Wendt aber rief:

„Kinder, ich hab’s – meine Russin fängt an zu wirken! Born, Unglücksmensch, Sie sind bei ihr gewesen, allein – “

„Auf Grund einer besonderen schriftlichen Einladung!“ glaubte der so Interpellirte konstatiren zu müssen; „sie wünschte eines meiner Stücke kennen zu lernen und hat es mir vorgelesen, um sich im Deutschen zu üben; sie las übrigens reizend.“

„Selbstverständlich! Sagen Sie lieber, wann Sie fortgekommen sind?“ forschte Wendt weiter.

Born, dem dies Verhör außerordentlich lästig zu sein schien, gab zu, daß es „spät“ geworden sei, wollte jedoch nähere Angaben nicht machen können, was natürlich große Heiterkeit erregte. Arvenberg rief dazwischen: „Aber, lieber Born, warum so zurückhaltend und verschlossen? Sie brauchen Sich wahrhaftig nicht zu geniren, denn ich nehme nicht den geringsten Anstand, von freien Stücken zu erzählen, daß ich Fräulein Walujeff ebenfalls wiedergesehen habe, d. h., daß ich in gewissem Sinne von ihr aufgesucht worden bin – tout franchement.“

Reinisch horchte auf und meinte lachend:

„Das schöne Fräulein scheint zur Zeit wenig anderweite Beschäftigungen zu haben, da sie euch sogleich heranholt; nun, da Born die Details jenes literarisch-ästhetischen tête-à-tête gleich den eleusinischen Geheimnissen wahren zu wollen scheint, so denke ich, wir lassen ihn in Frieden und halten uns an Arvenberg, der den Eindruck macht, als sei er mittheilungslustiger.“

„Nun, die Geschichte war ziemlich einfach und sehr harmlos,“ erzählte Arvenberg; „ich saß vorgestern Abend auf meinem Rezensentenplatz im Theater und hätte an den Wänden hinauflaufen mögen vor Aerger über einen Kulissenreißer von Helden, der über ein Maximum von äußeren und über ein Minimum von inneren Mitteln verfügt und eigentlich nur vor einem Parterre von – Zahnärzten spielen sollte – er hat nämlich zwei Reihen tadellos schöner Zähne, die zu zeigen ihm zu so hoher Genugthuung zu gereichen scheint, daß er sie auch in Momenten fletscht, die dazu nicht die geringste Veranlassung bieten. Da tritt der Logenschließer geräuschlos ein, tippt mir auf die Schulter und flüstert mir zu, daß ich während des Zwischenakts doch jedenfalls heraus ins Foyer gehen möchte – eine sehr große, schlanke, elegante Dame wünsche mich zu sprechen. Der Mensch machte ein ganz verdutztes Gesicht dazu – der kleine Rezensent, der von Anfang an so wenig Trinkgeldhoffnungen erweckte, erschien ihm jedenfalls plötzlich in ganz anderm Lichte. Ich ging die Reihe der mir bekannten jüdischen Damen durch, aber das ‚groß’ wollte auf keine passen – ja, wenn er „fett“ gesagt hätte! An eine junge Dame dachte ich natürlich nicht – die Matrone war selbstverständlich. Was man da wieder von mir verlangen könne, war mir unerfindlich – etwa eine zärtliche Mutter, deren kraushaariger, ramsnasiger Sprößling neben einer starken Anzahl anderer Talente auch eine ‚entschiedene’ Begabung für die Bühne zeigte und mir einmal die große Rede des Brutus an der Leiche Cäsars zur Abwechslung vormauscheln wollte? Ich war gar nicht in gnädiger Stimmung, als ich mich in den Strom der im Foyer Promenirenden mischte und auch als ich Fräulein Tatjana begegnete, hielt ich dies für einen Zufall, bis sie um meinen Arm bat und mir lachend auseinandersetzte, sie habe mich bitten lassen, ins Foyer zu kommen, um fünf Minuten mit mir zu promeniren und mir zu sagen, daß sie mein gegittertes Schreibpapier, von dem ich ihr eine Probe unter Couvert gesandt hatte, aufgetrieben habe – in etwa acht Tagen würde sie es aus Paris bekommen. Das ist doch aufmerksam, und ich muß nun sehen, daß ich mich durch Besorgung einer bestimmten österreichischen Cigarette revanchire, die sie nirgends finden kann, wie sie neulich ganz beiläufig erwähnte; mein Vater hat einen Agenten in Wien, der mir diese ‚Trebisonder’ jedenfalls verschaffen kann, und ich habe bereits an den Mann geschrieben. Ihr könnt euch ungefähr denken, wie wir angeglotzt wurden – Fräulein Tatjana hatte eine distinguierte, für unsere Stadt, in der es ja trotz alles Reichthums ziemlich philiströs-bürgerlich hergeht, geradezu extravagante Toilette gemacht, und man blieb förmlich offnen Mundes vor ihr stehen und staunte sie an, wie die Kuh das neue Thor. Sie ließ mich, dessen ‚Schwäche für Süßigkeiten’ sie ja hinreichend – infolge Ihrer Indiskretion, lieber Wendt – kannte, aus ihrer kleinen Bonbonnière von lichtblauer Emaille naschen und drückte mir dieselbe, als die Klingel ertönte und alles in die Logen zurückströmte, mit einem schelmisch-befehlenden: ‚Zur gefälligen Bedienung – nach Schluß der Vorstellung an er Thür Ihrer Loge mir wieder zuzustellen!’ in die Hand und – fort war sie. Sie kam dann wirklich, mit Mutter und Bruder, freute sich, daß unser Weg ziemlich der gleiche war, meinte: ‚Ach, das trifft ja allerliebst – Mama und die brüderliche Liebe mögen den Wagen benutzen, der uns erwartet, und Sie führen mich durch die sternenklare Nacht zu Fuße nach Hause; ich möchte gern noch eine Viertelstunde gehen,’ und hing ihren Arm ohne weiteres in den meinen. Wir haben uns auf diesem Wege, der sich, halb durch meine, halb durch ihre Schuld, zu einem ganz unlogischen Konglomerat von Umwegen gestaltete, ganz gut unterhalten, und als wir vor der Hausthür angelangt waren, warf sie sogar die Frage auf, ob ich nicht noch ein Glas Thee bei ihnen nehmen wollte. Das aber habe ich – hört es, ihr Spötter – verbindlich dankend abgelehnt und es vorgezogen, mein Glas Thee im Café zu trinken, wer weiß, wann man fortgekommen wäre und ich wollte noch eine kurze Kritik schreiben. Im Café hatte ich die Genugthuung, daß der ästhetische Scharfrichter, vulgo Rezensent, unseres Konkurrenzblattes, der mich bisher stets vornehm ignorirt hatte, sich mir persönlich mit großer Artigkeit vorstellte; er wollte natürlich nur wissen, wer die hochelegante, pikante Dame gewesen sei, mit der ich so vertraulich plaudernd promenirte und die niemand gekannt habe, die also wohl eine Fremde sein müsse. Nun hättet ihr einmal sehen sollen, mit welcher nachlässigen Selbstgefälligkeit ich mich im Stuhl zurücklehnte, den blauen Wölkchen meiner Cigarette nachsah und mit affektirter Zerstreutheit Auskunft gab: ‚Vornehme Russin – enorm reich – Familie lebt meist im Ausland auf Reisen – gut mit ihr bekannt – komme öfters hin – sehr feines, gastfreies Haus – unangemeldeter Zutritt – eben nach Hause begleitet – Einladung zum Thee ausgeschlagen – gestern spät von einem Souper heimgekommen.‘ Der Mensch war völlig um den Finger zu wickeln und wird in Zukunft seinen Hut sehr tief vor mir ziehen – ich habe ihm sicher höllisch imponirt.“

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Idealisten. , Leipzig 1880, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_48_48.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)