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Reinisch ließ sich diesmal nicht lange bitten, sondern nahm den Faden seiner Erzählung wie folgt wieder auf:

„Wochen waren seit Curts Beichte ins Land gegangen, als er plötzlich eines Sonnabends nach längerem unschlüssigen Schweigen ganz abrupt mit der Frage herausrückte, ob ich am darauffolgenden Nachmittag mich an einer Schlittenpartie betheiligen wolle. Als ich fragte, ob wir beiden allein sein würden, antwortete er mit ‚Nein!‘ und ich errieth nun rasch, daß seine Geliebte von der Partie sein würde, daß es ihm schwer fiel, mir das offen und unumwunden zu sagen und daß er lieber errathen sein wollte. Ich sagte natürlich zu und war, wie ihr euch denken könnt, etwas betreten, als er allein in dem auf vier Personen berechneten Schlitten saß, der klingelnd vor dem Café vorfuhr, in dem wir uns Rendez-vous geben wollten. Er gab mir keine Erklärung und ich mochte nicht fragen; so stieg ich denn ein und wir hatten schon die letzten Häuser der Vorstadt Karolinenthal erreicht, als er dem Kutscher einen Wink gab. Der Schlitten hielt nur einen Moment; eine tiefverschleierte Dame im Pelzmantel, die wir eingeholt hatten, stieg rasch in den Schlitten und nahm neben Curt Platz, und während die Pferde wieder anzogen, schlug sie den Schleier zurück und zeigte mir das feine, regelmäßige, von der scharfen Luft geröthete Gesicht meiner Nachbarin. Sie war wahrhaftig noch schöner, als sich aus der Ferne hatte feststellen lassen und als sie mir, um anzudeuten, daß keine Vorstellung erfolgen würde und daß sie über mich hinlänglich informiert sei, die kleine Hand im wildledernen Handschuh hinhielt, konnte ich mich einer leichten momentanen Verwirrung nicht erwehren. Alles, was wir über einen Menschen wissen, hat uns sein Gesicht in dem Augenblick gesagt, in dem wir die ersten Worte mit ihm wechselten, und alle die folgenden Jahre können nur ganz unbedeutende Aenderungen an diesem ersten Urtheil hervorbringen; in allem wesentlichen werden sie es lediglich bestätigen. Ich fühlte, daß an diesem eigenthümlichen Geschöpf nichts Zweideutiges, daß an ihr kein falsches Aederchen war, und ich fühlte, daß sie mindestens ebensoviel Charakter als Herz besaß. Ich bat ihr unwillkürlich im stillen jeden unbestimmten Zweifel ab, den ich bezüglich ihrer gehegt und daß ich solche Zweifel gegen Curt geäußert, versetzte mich in eine brennende Verlegenheit. Er seinerseits schien ganz genau zu wissen, was in mir vorging, denn in seinem leichten Lächeln lag ebenso viel feiner Spott, als Befriedigung über den vortheilhaften Eindruck, den seine Geliebte auf mich gemacht; er schien zu fragen: ‚Nun? ist man überführt?‘

„Wir kamen rasch ins Plaudern und Leontine betheiligte sich ohne eigentlichen Eifer, aber auch ohne jede Spur von Befangenheit und Zurückhaltung am Gespräch. Sie war ebenso frei von der tastenden, verlegen lächelnden Zimperlichkeit, die den Frauen neuen Bekannten gegenüber oft genug eigen ist, als von einem Haschen nach Geistreichigkeit, und ihr vornehmes Gesicht und ihre ernsten, dunklen Augen wurden nur selten durch ein Lächeln aufgehellt; dieses Lächeln war aber hinreißend, so viel Herzensgüte, Unschuld, Vertrauen und – Liebe sprachen sich in ihm aus. Sehr bald hatte ich das Gefühl, daß sie viel lebhafter und interessanter sein würde, ginge sie nicht so vollständig auf in dem Glück, an Curts Seite zu sein und ihn sehen und hören zu können; ihre Augen hingen oft mit dem vollen Ausdruck einer ebenso leidenschaftlichen als naiven, weltvergessenen Bewunderung an seinen Lippen und dann war es, als besinne sie sich erst wieder darauf, daß sie ja nicht allein seien. Ich fand selbst diese Zerstreutheit liebenswürdig; es ist ja das Vorrecht und oft der Fluch der Frauen, ganz und gar in der Liebe aufzugehen und dieses Mädchen sah nicht so aus, als werde sie viele ‚Herzensfrühlinge‘ erleben; sie gehörte nicht zu den Frauen, die das Lieben an sich so süß finden, daß der Gegenstand dieser Liebe ziemlich gleichgültig ist und die deshalb die Liebhaber wie die Handschuhe wechseln, ohne dabei die geringste Störung ihres innern Wohlbefindens und ihres seelischen Gleichgewichts zu erleiden, und die zu wenig an klares und logisches Denken gewöhnt sind, um es nicht leicht zu finden, die Berechtigung solches Wechsels durch ein paar armselige Sophismen nachzuweisen und sich von aller Schuld reinzuwaschen. Diese Art Frauen hasse ich ebenso sehr, als ich sie verachte; sie bringen es fertig, aus mir einen Sprühteufel von Sarkasmen zu machen, und daß ich Leontine sofort als eine von den tiefen Naturen erkannte, die nicht den Mann, sondern den und den bestimmten Mann lieben und sich einen Ersatz für denselben weder aufreden noch aufzwingen lassen, machte mich merkwürdig vergnügt und innerlich ruhig. Es ist doch an und für sich eine rechte Herzensfreude, einen Menschen kennen zu lernen, vor dem man in aufrichtiger Ehrerbietung den Hut ziehen möchte, und dann war es mir ja durchaus nicht gleichgültig, ob es eine edle Natur war, an die mein junger Freund sein schönes und reizbares, starkes und verwundbares

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Rudolf Lavant: Idealisten. , Leipzig 1880, Seite 529. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_45_37.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)