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viel vergnügter und stillseliger an dem Morgen gewesen, an dem ich auf himmelblauem, mit Engelsköpfchen verzierten Papier die Einladung zu meinem ersten Rendezvous erhalten hatte – und das war doch schon sehr lange her und ich war seitdem um manchen Grad kühler geworden. Als ich (eine Viertelstunde vor der verabredeten Zeit, wie ich bekennen muß) bei ihm klingelte, öffnete mir ein Diener, der noch nicht einmal den Mund geöffnet hatte, als ich bereits wußte, daß er keiner von all den Nationalitäten und Nationalitätchen des polyglotten Kaiserreichs angehörte; seine nordalbingische Stammesangehörigkeit war ihm in Fraktur ins ehrliche Gesicht geschrieben, und er sprach denn auch das reinste und knorrigste Platt, das man sich nur wünschen konnte. Während der Occupation Holsteins durch die Oesterreicher hatte er, wie ich später erfuhr, den kaiserlichen Rock angezogen, wie so mancher von seinen Landsleuten, und nun war er bereits so mit seinem Herrn verwachsen, der blauäugige, flachsköpfige, phlegmatische Holsteiner, daß er sich um keinen Preis wieder von ihm getrennt hätte.

Es war nicht eigentlich eine hochelegante Wohnung, in die ich geführt ward, aber sie war äußerst geschmackvoll und behaglich eingerichtet und legte den Schluß nahe, daß der Inhaber gern und viel zu Hause sei und – die Mittel besitze, seinem Schönheitssinn vollauf Genüge zu thun, ohne ängstlich rechnen zu müssen. Es ging kein weichlicher Zug durch diese Einrichtung, durch nichts stand sie in Widerspruch mit dem Soldatenthum des Bewohners und doch mußte ich mir sagen, daß es wohl keiner von seinen Kameraden verstehen würde, sich gerade so einzurichten. Als ich ihm nach prüfender Umschau in den Haupträumen, während deren er meinen Blick mit einer gewissen Spannung verfolgte, ein Kompliment über sein reizendes Junggesellenheim machte, sagte er: „Nun ja, wenn ich’s hübsch und behaglich haben kann, ist mir’s schon recht – Bedürfniß ist mir’s freilich nicht und ich schlafe ganz ebenso fest und süß zwischen leinenen Zeltwänden oder unter freiem Himmel, den Mantel als Decke.“ Er hätte hinzufügen können, daß er Anspruch darauf habe, „fine lame“ genannt zu werden, daß er über sehr subtile Küchenfragen mitreden könne und daß ihm dennoch bei einem Stück Kommisbrod und Speck ganz ebenso wohl sei, sodaß er, ohne im geringsten dadurch genirt zu werden, zu dem frugalsten Soldatenregime übergehen könne; ich sollte es bald weghaben, daß er allen Komfort des Lebens nur als einen Schmuck ansah, als einen reizenden, aber immerhin recht entbehrlichen Schmuck.

An diesem Abend bekam ich denn auch einiges über seine persönlichen Verhältnisse zu hören, aber nur so beiläufig, als könne mich dergleichen keine Minute interessiren. Er war also ein geborener Hannoveraner, was man ihm durchaus nicht anhören konnte; sein Hochdeutsch war frei von jedem Dialektanklang. Einer armen adeligen Familie entstammend, hatte er in früher Jugend den Vater verloren und war dadurch mit Mutter und Geschwistern von der Güte eines reichen unverheirateten Onkels abhängig geworden, der es in der österreichischen Armee bis zum General gebracht hatte und auch jetzt noch, obwohl er längst in den wohlverdienten Ruhestand versetzt war und sich nach dem Eldorado aller österreichischen Pensionäre, nach Graz zurückgezogen hatte, mit Leib und Seele Soldat war. Seinem Wunsche gemäß war Curt ebenfalls in die österreichische Armee eingetreten, ohne Vorliebe, aber auch ohne lebhafte Abneigung; nur das hatte er sich ausbedungen, zur Artillerie oder zum Genie gehen zu können, und der alte Herr, der freilich lieber einen „schneidigen“ Husaren oder Ulanen aus ihm gemacht hätte, hatte sich am Ende gefügt, wenn schon nicht ohne einiges Brummen über die überflüssige Gelehrsamkeit, die vor dem Feinde auch nicht viel helfe. Mir selber ist alles „höhere“ Rechnen zeitlebens ein böhmisches Dorf gewesen und das Wurzelziehen und der Gebrauch der vega’schen Tabellen hat meinem Künstlerkopf nie eingetrichtert werden können, ich konnte es mithin schwer fassen, daß ein Mensch, in dessen Augen man alles lesen konnte, nur nicht eine Vorliebe für algebraische Gleichungen und für Stereometrie, mit diesen mir in so hohem Grade imponirenden Wissenschaften fertig geworden war und sprach meine Bewunderung über diese Neigung für die Mathematik aus. Er lachte und meinte:

„Vorliebe? Wo denken Sie hin? Bis zum Verlassen der Realschule war mir noch alles, was nur im entferntesten an die Mathematik erinnerte, ein Greuel, so sehr überwucherte bei mir die Phantasie; ich hatte einen tiefen Widerwillen gegen alles Abstrakte, und in den Sprachen war ich allen Kameraden überlegen, eine Regel aber behielt ich nie, so wenig wie in der Geschichte eine Jahreszahl. Als ich aber Soldat werden sollte und mir sagte, daß ich zum Rekrutendrillen doch ein für allemal verdorben sei, also eine der gelehrten Waffen wählen müßte, warf ich mich eben auf die so schnöde vernachlässigte Mathematik und Sie werden doch gewiß nicht behaupten wollen, daß ein Mensch, der gerade kein Idiot ist und ernstlich will, ihrer Schwierigkeiten nicht Herr zu werden vermöchte. Ebenso gut und ebenso leicht hätte der Herr Onkel General aber auch den Kassirer und Buchhalter eines großen Bankgeschäfts oder einen Gymnasiallehrer oder einen Professor der modernen Sprachen aus mir machen können und wahrscheinlich wäre das letztere sogar leichter gewesen, da hier meine Neigung ins Spiel kam.“

Im Verlauf des Gesprächs erfuhr ich dann, daß mein junger Freund „zur Erholung“, aber mit vollstem wissenschaftlichen Ernst, Literatur trieb, daß er jedes Jahr eine neue Sprache erlernte, das Jahr vorher des Italienischen Herr geworden war, jetzt Spanisch trieb und sich auch für Architektur lebhaft interessirte. Sollte über diesen „Allotria“ der Dienst und die Kriegsgeschichte nicht Noth leiden, so war herzlich wenig Zeit für gesellige Freuden übrig und ich räumte ihm willig ein, daß er die Stunden zu Rathe ziehen und sich auf den Umgang mit einigen gleich strebsamen Kameraden von der Artillerie und vom Genie beschränken müsse, zu denen ich nun als willkommene Ergänzung käme. Jede Einladung von Seiten der Familien, bei denen er eingeführt sei, empfinde er als eine Störung seines fleißigen Stilllebens, und in der That fand ich ihn später, wenn er zu einem Souper oder zu einem Ball gehen mußte, regelmäßig in einer sehr komisch wirkenden, aber sehr ernst gemeinten Verzweiflung. Seine Laune war dann jedesmal die denkbar schlechteste, d. h. selbst der treue Jehan bekam zuweilen ein ungeduldiges Wort zu hören, ohne sich darüber wundern zu dürfen, denn seinen Herrn ärgerte in solchen Stunden die Fliege an der Wand. Wenn ich ihm lächelnd vorhielt, daß er doch viel zu jung sei, um den menschenscheuen Anachoreten zu spielen und daß die jungen Damen und vielleicht auch die in gewissen ungewissen Jahren sicherlich ihr bestes thäten, ihn zu fesseln, warf er wohl unwirsch die Mütze auf den Tisch und sagte nicht ohne sarkastische Schärfe: „Freilich, sie lächeln mir in allen Süßigkeitsgraden zu, aber das ist eben das Unausstehliche. Man hält mich für einen épouseur, weil man sehr genau weiß, daß ich protegirt werde und also auch meine Karrière mache, daß ich einen alten sehr reichen Onkel zu beerben habe und daß er mir, wenn ich ihm heute meine Verlobung meldete, schon jetzt nachdrücklich unter die Arme greifen würde. Mir ist also jedes Entgegenkommen verdächtig, ja selbst die Kälte, weil sie affektirt sein kann und von der Schlauheit als Lockmittel verwendet wird, wenn die Süßigkeit nicht anschlagen will. Und dann – was soll ich mit den Dämchen anfangen? Entweder bringen sie mich zum Gähnen durch ihre imitirte Naivetät, die man halb und halb verpflichtet ist, hinreißend zu finden, oder sie halten es für angezeigt, mir gegenüber, der ich nun einmal im Rufe stupender Gelehrsamkeit stehe, ihr unverdautes Pensionswissen auszukramen und über die schwierigsten Materien mit der Tollkühnheit der Halb– und Viertelswisserei apodiktische Urtheile abzugeben, von deren Lächerlichkeit sie auch nicht die blasseste Ahnung haben. Und mir ist meine Zeit zu kostbar zu solchem Geschwätz, seit dasselbe aufgehört hat, den zweifelhaften Reiz der Neuheit für mich zu haben; früher ging ich wohl zuweilen in Gesellschaft, um Studien zu machen, aber an die Stelle des Interesses ist längst die ödeste Langeweile getreten und ich habe mich schon still aus einem Ballsaal verloren, um mir meinen „Trelawney“ noch satteln zu lassen und stundenlang durch die Nacht zu jagen und staub– und schmutzbedeckt mit einem stummen, ironischen Gruß unter dem Saal vorbeizutraben, wenn droben nach dem letzten Galopp die zierlichen meißner Moccaschälchen die Runde machten. Es ist auch schon vorgekommen, daß ich eine verhaßte Einladung zwar annahm, mich aber in letzter Stunde noch unter einem Vorwand entschuldigen ließ und dann, um nicht so leicht gesehen zu werden, in Sturm und Wetter einen nächtlichen Gewaltmarsch vornahm; kam ich dann im Morgengrauen heim und fand beim Ausziehen der Stiefel, daß mir der Strumpf an dem wunden, blutenden Fuß festklebte, so konnte ich recht vergnügt und schadenfroh vor mich hinlachen – hatte ich sie doch wieder einmal um das Vergnügen geprellt, mich eine Rolle in ihrer faden Komödie spielen zu sehen und mir ein Vergnügen gemacht, indem ich allen Uebermuth und Ueberschwang der Jugend in meiner Weise austobte.“

Empfohlene Zitierweise:
Rudolf Lavant: Idealisten. In: Die Neue Welt, Leipzig 1880, Seite 422. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Idealisten_36_11.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)