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Auch hätte, wie mich dünkt, die Kunst den Mund lassen sollen, wie er war, ohne den ganz zwecklosen v-Schnitt. Das soll das Zeichen für kurze Sylben sein. Recht gut; aber ein Mundschnitt nach dem Muster des Zeichens für kurze Sylben geführt, ist deßwegen noch kein kurzer Schnitt. Das ganze Zeichen taugt ohnehin von Haus aus nichts. Hätten die ersten Poetiker Geometrie verstanden, fürwahr sie hätten das Lange nicht mit dem Naturzeichen für die Kürze, und das Kurze nicht mit dem für die Krümme und den Umweg bezeichnet[1].

Dafür, daß die Kunst an dieser Braut Manches freilich ein wenig verdorben hat, hat sie aber denn doch wirklich Verschiedenes nicht so ganz übel gemacht, und das verdient eine ehrenvolle Erwähnung. So ist, zum Beispiel, dem Umstande, daß die Dame fast um zwei Fuß kleiner ist, als ihr Bräutigam, und nur um vier Finger breit größer als ihr Kammermädchen, das hinter ihr kniet, einem Naturfehler, möglichst von der Kunst entgegengearbeitet worden. Schade nur, daß die Gala-Länge, die sie der Dame zugemessen hat, nicht für die stille Stickluft einer Dorfkirche, sondern bloß für einen Park-Zephyr oder den Wirbel-Wind eines Walzers auf dem Ball berechnet ist. Man sieht, sie hat die Pfauen-Pracht ihrer schönsten Hälfte, ich meine den Flügel-Schweif des Kopfzeugs, hinten beigezogen. In einem Sturm oder


  1. Daß die Chorde kürzer ist, als der ihr zugehörige Bogen, ist, dünkt mich, eben so klar, als es unbegreiflich ist, wie man dem ungeachtet mit dem Bogen die kurzen und mit der Chorde die langen Sylben bisher hat bezeichnen können. Wie viel eine richtige Nomenclatur oder Zeichensprache zum Fortgange der Wissenschaft beitrage, ist neuerlich von einigen Naturforschern so deutlich gezeigt worden, daß ich auf die Vermuthung gerathen bin, ob nicht der schlechte Fortgang, den die Versbaukunst unter uns hier und da hat, vielleicht gar von jener ganz widersinnigen Sprache in der Prosodie herrühren könne. Da nun in unsern Tagen die Vernunft ihren alten Familien-Proceß gegen ihre Verwalter mit besonderem Glück zu führen scheint, so wünschte ich, daß man noch ein Separatartikelchen anhängen und darauf antragen möge, künftig die Daktylen nicht mehr mit -vv sondern mit v– – zu bezeichnen.