Seite:Hoffmann Fantasiestücke in Callots Manier Bd.2 1819.pdf/353

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

mit wunderbarer Zauberkraft das menschliche Gemüth ergreift, ist die Melodie. – Nicht genug zu sagen ist es, daß ohne ausdrucksvolle, singbare Melodie jeder Schmuck der Instrumente u. s. w. nur ein glänzender Putz ist, der, keinen lebenden Körper zierend, wie in Shakspeare’s Sturm,[WS 1] an der Schnur hängt, und nach dem der dumme Pöbel läuft. Singbar ist, im höhern Sinn genommen, ein herrliches Prädikat, um die wahre Melodie zu bezeichnen. Diese soll Gesang seyn, frei und ungezwungen unmittelbar aus der Brust des Menschen strömen, der selbst das Instrument ist, welches in den wunderbarsten geheimnißvollsten Lauten der Natur ertönt. Die Melodie, die auf diese Weise nicht singbar ist, kann nur eine Reihe einzelner Töne bleiben, die vergebens danach streben, Musik zu werden. Es ist unglaublich, wie in neuerer Zeit, vorzüglich auf die Anregung eines mißverstandenen Meisters (Cherubini’s),[WS 2] eben die Melodie vernachlässigt worden, und aus dem Abquälen, immer originell und frappant zu seyn, das gänzlich Unsingbare mehrerer Tongedichte entstanden ist. Wie kommt es denn, daß die einfachen Gesänge der alten Italiener, oft nur vom Baß begleitet, das Gemüth so unwiderstehlich rühren und erheben? Liegt es nicht lediglich in dem herrlichen, wahrhaft singenden Gesange? Ueberhaupt ist der Gesang ein wol unbestrittenes

Anmerkungen (Wikisource)

  1. William Shakespeare, Der Sturm, Vierter Aufzug, Erste Szene.
  2. Luigi Cherubini (1760-1842), italienischer Komponist und einflussreicher Lehrer am Pariser Konservatorium.