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überhaupt zwischen unserer Auffassung des Staatslebens und der hellenischen stattfindet. Denn der durchgreifendste Unterschied beider liegt weniger in den Verfassungsnormen, als in der Stellung, welche dem Staatsganzen zu den Einzelnen, ihren Rechten und ihrer Thätigkeit gegeben wird. Für unsere Anschauungsweise baut sich der Staat von unten her auf: die Einzelnen sind das Erste, der Staat entsteht dadurch, daß sie zum Schutz ihrer Rechte und zur, gemeinsamen Förderung ihres Wohls zusammentreten. Ebendeßhalb bleiben aber auch die Einzelnen der letzte Zweck des Staatslebens; wir verlangen vom Staat, daß er der Gesammtheit seiner einzelnen Angehörigen möglichst viel Freiheit, Wohlstand und Bildung verschaffe, und wir werden uns nie überzeugen, daß es zur Vollkommenheit des Staatsganzen dienen könne, oder daß es erlaubt sei, die wesentlichen Rechte und Interessen der Einzelnen seinen Zwecken zu opfern. Dem Griechen erscheint umgekehrt der Staat als das Erste und Wesentlichste, der Einzelne nur als ein Theil des Gemeinwesens; das Gefühl der politischen Gemeinschaft ist in ihm so stark, die Idee der Persönlichkeit tritt dagegen so entschieden zurück, daß er sich ein menschenwürdiges Dasein überhaupt nur im Staat zu denken weiß; er kennt keine höhere Aufgabe, als die politische, kein ursprünglicheres Recht, als das des Ganzen: der Staat, sagt Aristoteles, sei seiner Natur nach früher, als die Einzelnen. Hier wird daher der Person nur so viel Recht eingeräumt, als ihre Stellung im Staat mit sich bringt: es giebt, streng genommen, keine allgemeinen Menschenrechte, sondern nur Bürgerrechte, und mögen die Interessen der Einzelnen vom Staat noch so tief verletzt werden, wenn das Staats-Interesse dieß fordert, können sie sich nicht beklagen: der Staat ist der alleinige ursprüngliche Inhaber aller Rechte, und er ist nicht verpflichtet, seinen Angehörigen an denselben einen größeren Antheil zu gewähren, als seine eigenen Zwecke mit sich bringen. Auch Plato theilt diesen Standpunkt, ja er hat ihn in seiner Republik auf die Spitze getrieben. Andererseits erkennt er aber freilich zugleich an, daß eine wahre Sittlichkeit nur durch freie Ueberzeugung, durch das eigene Wissen der Einzelnen möglich sei, daß sich auch die politische Tüchtigkeit durch eine gründliche wissenschaftliche Erkenntniß vollenden, die gewöhnliche und gewohnheitsmäßige Tugend sich durch die

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Zeller: Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit. In: Historische Zeitschrift Bd. 1. Literarisch-artistische Anstalt der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, München 1859, Seite 125. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Historische_Zeitschrift_Bd._001_(1859)_125.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)