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man zunächst glauben möchte. Denn für’s Erste sind die politischen Gründe beider Einrichtungen die gleichen: wie Plato seinen „Wächtern“ die Gründung einer Familie untersagt, damit sie ganz und ausschließlich dem Staat gehören, so zwang Gregor der widerstrebenden Geistlichkeit den Cölibat auf, damit sie fortan ungetheilt der Kirche gehören sollte. Sodann handelt es sich ja aber auch bei Plato’s Weibergemeinschaft keineswegs darum, der persönlichen Neigung, oder gar der sinnlichen Begierde einen freieren Spielraum zu geben, sie von den Fesseln der Ehe zu entlasten; sondern es sollen umgekehrt die persönlichen Wünsche beseitigt, es sollen die Bürger in ihren geschlechtlichen Funktionen, wie in Allem, zu Organen des Staats gemacht werden, die Ehe soll nicht Sache der Neigung oder des Interesse’s, sondern nur der Pflicht sein: es sind Kinder zu erzeugen, wenn der Staat deren bedarf, und sie sind mit denen zu erzeugen, welche der Staat zur Erzielung eines kräftigen Nachwuchses den Einzelnen zuweist. Plato verlangt demnach von seinen Bürgern eine Selbstverläugnung, eine Unterordnung unter das gemeinsame Interesse, von welcher bis zur gänzlichen Enthaltsamkeit nur ein Schritt war; er würde kein Bedenken getragen haben, auch diese zu fordern, wenn sein Staat die Ehe entbehren könnte und wenn die Ascese der spätern Jahrhunderte schon seine Sache gewesen wäre.

Es sind dieß aber keine bloßen Analogieen, wie sie auch zwischen weit auseinanderliegenden Erscheinungen in Folge eines zufälligen Zusammentreffens wohl vorkommen, sondern es findet hier ein wirklicher Zusammenhang, eine Einwirkung des Früheren auf das Spätere statt. Denn so verfehlt es auch wäre, dem platonischen Vorgang einen unmittelbar maaßgebenden Einfluß auf die Gestaltung des christlichen Kirchen- und Staatswesens zuzuschreiben, so wenig läßt sich andererseits eine Verwandtschaft beider verkennen, für welche wir die Zwischenglieder noch großentheils nachweisen können, durch die sie vermittelt ist. Die platonische Lehre ist eines der wichtigsten von den Bildungselementen des späteren klassischen Alterthums, eine geistige Macht, deren Wirkungen weit über den Kreis der platonischen Schule hinausgehen. Unter den nachfolgenden Systemen hat nicht blos das aristotelische, sondern auch das stoische, ihren Geist in sich aufgenommen, und das letztere besonders hat für seine Moral der platonischen

Empfohlene Zitierweise:
Eduard Zeller: Der platonische Staat in seiner Bedeutung für die Folgezeit. In: Historische Zeitschrift Bd. 1. Literarisch-artistische Anstalt der J. G. Cotta’schen Buchhandlung, München 1859, Seite 115. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Historische_Zeitschrift_Bd._001_(1859)_115.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)