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David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse

Operiren mit den Ziffern bestimmen, so wird das Operiren mit den geometrischen Zeichen durch die Axiome der geometrischen Begriffe und deren Verknüpfung bestimmt.

Die Uebereinstimmung zwischen geometrischem und arithmetischem Denken zeigt sich auch darin, daß wir bei arithmetischen Forschungen ebensowenig wie bei geometrischen Betrachtungen in jedem Augenblicke die Kette der Denkoperationen bis auf die Axiome hin verfolgen; vielmehr wenden wir, zumal bei der ersten Inangriffnahme eines Problems, in der Arithmetik genau wie in der Geometrie zunächst ein rasches, unbewußtes, nicht definitiv sicheres Combiniren an, im Vertrauen auf ein gewisses arithmetisches Gefühl für die Wirkungsweise der arithmetischen Zeichen, ohne welches wir in der Arithmetik ebensowenig vorwärts kommen würden, wie in der Geometrie ohne die geometrische Einbildungskraft. Als Muster einer mit geometrischen Begriffen und Zeichen in strenger Weise operirenden arithmetischen Theorie nenne ich das Werk von Minkowski[1] „Geometrie der Zahlen.“

Es mögen noch einige Bemerkungen über die Schwierigkeiten, die mathematische Probleme bieten können und die Ueberwindung solcher Schwierigkeiten Platz finden.

Wenn uns die Beantwortung eines mathematischen Problems nicht gelingen will, so liegt häufig der Grund darin, daß wir noch nicht den allgemeineren Gesichtspunkt erkannt haben, von dem aus das vorgelegte Problem nur als einzelnes Glied einer Kette verwandter Probleme erscheint. Nach Auffindung dieses Gesichtspunktes wird häufig nicht nur das vorgelegte Problem unserer Erforschung zugänglicher, sondern wir gelangen so zugleich in den Besitz einer Methode, die auf die verwandten Probleme anwendbar ist. Als Beispiel diene die Einführung complexer Integrationswege in der Theorie der bestimmten Integrale durch Cauchy und die Aufstellung des Idealbegriffes in der Zahlentheorie durch Kummer. Dieser Weg zur Auffindung allgemeiner Methoden ist gewiß der gangbarste und sicherste; denn wer, ohne ein bestimmtes Problem vor Auge zu haben, nach Methoden sucht, dessen Suchen ist meist vergeblich.

Eine noch wichtigere Rolle als das Verallgemeinern spielt – wie ich glaube – bei der Beschäftigung mit mathematischen Problemen das Specialisiren. Vielleicht in den meisten Fällen, wo wir die Antwort auf eine Frage vergeblich suchen, liegt die Ursache des Mißlingens darin, daß wir einfachere und leichtere


  1. Leipzig 1896.[WS 1]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Herman Minkowski: Geometrie der Zahlen, Leipzig 1910
Empfohlene Zitierweise:
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)