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David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse

aus der so tiefsinnigen Theorie der unendlichen Transformationsgruppen von Lie entnommen werden kann. Auch wird der Mathematiker, wie er es in der Geometrie gethan hat, nicht bloß die der Wirklichkeit nahe kommenden, sondern überhaupt alle logisch möglichen Theorien zu berücksichtigen haben und stets darauf bedacht sein, einen vollständigen Ueberblick über die Gesamtheit der Folgerungen zu gewinnen, die das gerade angenommene Axiomensystem nach sich zieht.

Ferner fällt dem Mathematiker in Ergänzung der physikalischen Betrachtungsweise die Aufgabe zu, jedes Mal genau zu prüfen, ob das neu adjungirte Axiom mit den früheren Axiomen nicht in Widerspruch steht. Der Physiker sieht sich oftmals durch die Ergebnisse seiner Experimente gezwungen, zwischendurch und während der Entwickelung seiner Theorie neue Annahmen zu machen, indem er sich betreffs der Widerspruchslosigkeit der neuen Annahmen mit den früheren Axiomen lediglich auf eben jene Experimente oder auf ein gewisses physikalisches Gefühl beruft – ein Verfahren, welches beim streng logischen Aufbau einer Theorie nicht statthaft ist. Der gewünschte Nachweis der Widerspruchslosigkeit aller gerade gemachten Annahmen erscheint mir auch deshalb von Wichtigkeit, weil das Bestreben, einen solchen Nachweis zu führen, uns stets am wirksamsten zu einer exakten Formulirung der Axiome selbst zwingt.


Wir haben bisher lediglich Fragen über die Grundlagen mathematischer Wissenszweige berücksichtigt. In der That ist die Beschäftigung mit den Grundlagen einer Wissenschaft von besonderem Reiz und es wird die Prüfung dieser Grundlagen stets zu den vornehmsten Aufgaben des Forschers gehören. „Das Endziel“ so hat Weierstrass einmal gesagt, „welches man stets im Auge behalten muß, besteht darin, daß man über die Fundamente der Wissenschaft ein sicheres Urteil zu erlangen suche“ … „Um überhaupt in die Wissenschaften einzudringen, ist freilich die Beschäftigung mit einzelnen Problemen unerläßlich.“ In der That bedarf es zur erfolgreichen Behandlung der Grundlagen einer Wissenschaft des eindringenden Verständnisses ihrer speziellen Theorien; nur der Baumeister ist im Stande, die Fundamente für ein Gebäude sicher anzulegen, der die Bestimmung des Gebäudes selbst im Einzelnen gründlich kennt. So wenden wir uns nunmehr zu speciellen Problemen einzelner Wissenszweige der Mathematik und berücksichtigen dabei zunächst die Arithmetik und die Algebra.

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David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/22&oldid=- (Version vom 1.8.2018)