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David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse

vollkommen erledigt worden[1]; auch ist es Gerling[2] gelungen, die Volumengleichheit symmetrischer Polyeder durch Zerlegung in congruente Teile zu beweisen. Dennoch erscheint mir der Beweis des eben genannten Satzes von Euklid auf diese Weise im allgemeinen wohl nicht als möglich und es würde sich also um den strengen Unmöglichkeitsbeweis handeln. Ein solcher wäre erbracht, sobald es gelingt, zwei Tetraeder mit gleicher Grundfläche und von gleicher Höhe anzugeben, die sich auf keine Weise in congruente Tetraeder zerlegen lassen und die sich auch durch Hinzufügung congruenter Tetraeder nicht zu solchen Polyedern ergänzen lassen, für die ihrerseits eine Zerlegung in congruente Tetraeder möglich ist.


4. Problem von der Geraden als kürzester Verbindung zweier Punkte.


Eine andere Problemstellung, betreffend die Grundlagen der Geometrie ist diese. Wenn wir von den Axiomen, die zum Aufbau der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nötig sind, das Parallelenaxiom unterdrücken, bezüglich als nicht erfüllt annehmen, dagegen alle übrigen Axiome beibehalten, so gelangen wir bekanntlich zu der Lobatschefskijschen (hyperbolischen) Geometrie; wir dürfen daher sagen, daß diese Geometrie insofern eine der Euklidischen nächststehende Geometrie ist. Fordern wir weiter, daß dasjenige Axiom nicht erfüllt sein soll, wonach von drei Punkten einer Geraden stets einer und nur einer zwischen den beiden anderen liegt, so erhalten wir die Riemannsche (elliptische) Geometrie, so daß diese Geometrie als eine der Lobatschefskijschen nächststehende erscheint. Wollen wir eine ähnliche principielle Untersuchung über das Archimedische Axiom ausführen, so haben wir dieses als nicht erfüllt anzusehen und gelangen somit zu den Nicht-Archimedischen Geometrien, die von Veronese und mir untersucht worden sind. Die allgemeinere Frage, die sich nun erhebt, ist die, ob sich noch nach anderen fruchtbaren Gesichtspunkten Geometrien aufstellen lassen, die mit gleichem Recht der gewöhnlichen Euklidischen Geometrie nächststehend sind, und da möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf einen Satz lenken, der von manchen Autoren sogar als Definition der geraden Linie hingestellt worden ist und der aussagt, daß die Gerade die kürzeste Verbindung zwischen zwei


  1. Vgl. außer der früheren Litteratur Hilbert, Grundlagen der Geometrie, Leipzig 1899, Kapitel IV[WS 1].
  2. Gauss's Werke, Bd. 8, S. 242[WS 2].

Anmerkungen (Wikisource)

  1. David Hilbert: Die Lehre von den Flächeninhalten in der Ebene, in Grundlagen der Geometrie (1903), Seite 39 ff. Quelle
  2. Carl Friedrich Gauß: Briefwechsel Congruenz und Symmetrie, in: Werke Bd. 8 (1900), Seite 242 Quelle
Empfohlene Zitierweise:
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)