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David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse

der Axiome völlig gelungen sein wird, so verlieren die Bedenken, welche bisweilen gegen die Existenz des Inbegriffs der reellen Zahlen gemacht worden sind, jede Berechtigung. Freilich der Inbegriff der reellen Zahlen, d h. das Continuum ist bei der eben gekennzeichneten Auffassung nicht etwa die Gesammtheit aller möglichen Dezimalbruchentwicklungen oder die Gesammtheit aller möglichen Gesetze, nach denen die Elemente einer Fundamentalreihe fortschreiten können, sondern ein System von Dingen, deren gegenseitige Beziehungen durch die aufgestellten Axiome geregelt werden und für welche alle und nur diejenigen Thatsachen wahr sind, die durch eine endliche Anzahl logischer Schlüsse aus den Axiomen gefolgert werden können. Nur in diesem Sinne ist meiner Meinung nach der Begriff des Continuums streng logisch faßbar. Thatsächlich entspricht er auch, wie mir scheint, so am besten dem, was die Erfahrung und Anschauung uns giebt. Der Begriff des Continuums oder auch der Begriff des Systems aller Functionen existirt dann in genau demselben Sinne wie etwa das System der ganzen rationalen Zahlen oder auch wie die höheren Cantorschen Zahlklassen und Mächtigkeiten. Denn ich bin überzeugt, daß auch die Existenz der letzteren in dem von mir bezeichneten Sinne ebenso wie die des Continuums wird erwiesen werden können – im Gegensatz zu dem System aller Mächtigkeiten überhaupt oder auch aller Cantorschen Alephs, für welches, wie sich zeigen läßt, ein widerspruchloses System von Axiomen in meinem Sinne nicht aufgestellt werden kann und welches daher nach meiner Bezeichnungsweise ein mathematisch nicht existirender Begriff ist.




Aus dem Gebiete der Grundlagen der Geometrie möchte ich zunächst das folgende Problem nennen.


3. Die Volumengleichheit zweier Tetraeder von gleicher Grundfläche und Höhe.


Gauss[1] spricht in zwei Briefen an Gerling sein Bedauern darüber aus, daß gewisse Sätze der Stereometrie von der Exhaustionsmethode, d. h. in der modernen Ausdrucksweise von dem Stetigkeitsaxiom (oder von dem Archimedischen Axiome) abhängig sind. Gauss nennt besonders den Satz von Euklid, daß dreiseitige Pyramiden von gleicher Höhe sich wie ihre Grundflächen verhalten. Nun ist die analoge Aufgabe in der Ebene


  1. Werke, Bd. 8[WS 1], S. 241 und 244.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Carl Friedrich Gauß: Briefwechsel Congruenz und Symmetrie, in: Werke Bd. 8 (1900), Seite 241 u. 244 Quelle
Empfohlene Zitierweise:
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/15&oldid=- (Version vom 1.8.2018)