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David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse

oder ist es vielleicht ein allgemeines dem inneren Wesen unseres Verstandes anhaftendes Gesetz, daß alle Fragen, die er stellt, auch durch ihn einer Beantwortung fähig sind? Trifft man doch auch in anderen Wissenschaften alte Probleme an, die durch den Beweis der Unmöglichkeit in der befriedigendsten Weise und zum höchsten Nutzen der Wissenschaft erledigt worden sind. Ich erinnere an das Problem des Perpetuum mobile. Nach den vergeblichen Versuchen der Construktion eines Perpetuum mobile forschte man vielmehr nach den Beziehungen, die zwischen den Naturkräften bestehen müssen, wenn ein Perpetuum mobile unmöglich sein soll[1], und diese umgekehrte Fragestellung führte auf die Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie, das seinerseits die Unmöglichkeit des Perpetuum mobile in dem ursprünglich, verlangten Sinne erklärt.

Diese Ueberzeugung von der Lösbarkeit eines jeden mathematischen Problems ist uns ein kräftiger Ansporn während der Arbeit; wir hören in uns den steten Zuruf: Da ist das Problem, suche die Lösung. Du kannst sie durch reines Denken finden; denn in der Mathematik giebt es kein Ignorabimus!




Unermeßlich ist die Fülle von Problemen in der Mathematik, und sobald ein Problem gelöst ist, tauchen an dessen Stelle zahllose neue Probleme auf. Gestatten Sie mir im Folgenden, gleichsam zur Probe, aus verschiedenen mathematischen Disciplinen einzelne bestimmte Probleme zu nennen, von deren Behandlung eine Förderung der Wissenschaft sich erwarten läßt.

Ueberblicken wir die Principien der Analysis und der Geometrie. Die anregendsten und bedeutendsten Ereignisse des letzten Jahrhunderts sind auf diesem Gebiete, wie mir scheint, die arithmetische Erfassung des Begriffs des Continuums in den Arbeiten von Cauchy, Bolzano, Cantor und die Entdeckung der Nicht- Euklidischen Geometrie durch Gauss, Bolyai, Lobatschefskiy. Ich lenke daher zunächst Ihre Aufmerksamkeit auf einige diesen Gebieten angehörenden Probleme.


  1. Vgl. Helmholtz, Ueber die Wechselwirkung der Naturkräfte[WS 1] und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik. Vortrag, gehalten in Königsberg 1854.[WS 2]

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Naturkrafte
  2. Hermann von Helmholtz: Über die Wechselwirkung der Naturkräfte und die darauf bezüglichen neuesten Ermittelungen der Physik. Ein populär-wissenschaftlicher Vortrag, gehalten zu Königsberg in Preußen am 7. Februar 1854. Königsberg : Gräfe & Unzer, 1854 Quelle
Empfohlene Zitierweise:
David Hilbert: Mathematische Probleme. In: Nachrichten von der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Mathematisch-Physikalische Klasse. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1900, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hilbert_-_Mathematische_Probleme.pdf/11&oldid=- (Version vom 1.8.2018)