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Historie schreiben wollten, sind eitel gewesen.[1] Aber eine wirkliche Erneuerung hat auch Kaiser Augustus nicht schaffen können, und die Blüthe der Poesie seines Volkes hat er noch selbst welken sehen. Die Unterströmung, die zu der Bildung einer neuen Religion und eines neuen Lebens strebte, hat an den Hellenismus angeknüpft und ist von der Reaction, die doch nur die Gebildeten anging, unberührt geblieben. Die Atticisten braucht man nicht, um Paulus zu verstehen: die Asianer kann man nicht entbehren.

So würden wir schliesslich dazu geführt, zu fragen, woher jene Wandlung in der Volksseele gekommen sei, die sie von der Gegenwart und der Tradition weg zu der Nachahmung dessen trieb, was 300 und mehr Jahre zurücklag und einer Form des Lebens und Fühlens in Staat und Gesellschaft angehörte, die so wenig wiederkehren konnte wie die alten Götter. Aber das ist eine Frage, auf die die Geschichte, so anmaasslich sie sich geberde, keine Antwort haben kann, wo ich mich mit der Philosophie Platons begnügen muss.[2] Wir verfügen nur über die Erweiterung des Beobachtungsmateriales, das zwei weitere Jahrtausende der Vergleichung bieten. Mir ist, seit ich sie kennen lernte, die Entwicklung der modernen Kunst vom Cinquecento bis zum Classicismus, der vor beiläufig 100 Jahren den Bruch brachte, die beste Erläuterung der hellenistischen Entwickelung, und in diesem Sinne habe ich die Schlagwörter der modernen Kunstgeschichte allezeit gebraucht.[3] So wenig wie wir noch etwas Herabsetzendes sagen wollen, wenn wir ein Werk der bildenden Künste barock nennen, so wenig dürfen wir uns die Beurtheilung der antiken Classicisten, gar des armen Gesellen Dionysios, gegenüber der hellenistischen Litteratur und Kunst aneignen. Wenn das antike Barocco weiter asianisch heissen soll, so muss der Verachtung des Asianismus ein Ende gemacht, muss namentlich die lebendige Sprache, auch in ihren Neologismen und ihrem lärmenden Schmucke, so schwer uns das


  1. Das versuchen sie alle, Dionysios von Halikarnass und von Pergamon, Caecilius, Theodoros; vermuthlich gehört auch Timagenes dahin, sicher Nikolaos. Memnon von Herakleia, die erfreulichste Erscheinung, steht als Provinziale wohl der Bewegung fern.
  2. Wie ich in meiner Rede über Weltperioden ausgeführt habe.
  3. Von vornherein in bewusstem Gegensatze zu der Art, wie es Hertz in seiner Rede Renaissance und Rococo in Rom gethan hätte; das ist ein Missbrauch, weil es die Worte, nicht die Stile im Auge hat. Die Renaissance war etwas Besseres als Imitation.
Empfohlene Zitierweise:
Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Asianismus und Atticismus. In: Hermes. Zeitschrift für classische Philologie Bd. 35. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1900, Seite 51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermes_35_051.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)