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Warum haben wir Luther lieb?


 Ich darf mit einer persönlichen Erinnerung beginnen. Vor jetzt 30 Jahren (1883) als Assistent an das Neue Gymnasium zu Regensburg berufen hatte ich den Unterricht in fast ganz katholischen Klassen; selten waren etliche Protestanten unter meinen Schülern. In der fünften Lateinklasse später mit dem Geschichtsunterricht betraut sollte ich Reformationsgeschichte – allerdings nach dem trockensten und farblosesten Lehrbuch, dem kleinen Pütz – treiben, der, wenn er einmal Farbe annahm, die katholische Anschauung nicht verleugnete. Der Protestant, der protestantische Theologe, der dankbare Schüler Luthers, den er unter allen Menschen am meisten liebt, sollte vor den Zöglingen der Dompräbende und der Alten Kapelle Luthers Leben und Wirken behandeln! Die Worte, mit denen ich den notgedrungen ganz dürftigen Unterricht begann, habe ich mir fest eingeprägt: „Wir sind an einem Markstein angelangt, an dem unsere Wege sich scheiden. Ich bin gelehrt und bin überzeugt, daß Luther der größte Wohltäter des deutschen Volkes, sein bester Freund, sein gottgesandter und gottbegnadeter Lehrer war, der jetzt leuchtet wie des Himmels Glanz. Ihr seid erzogen und unterwiesen zu glauben, daß er der Zerstörer der Glaubenseinheit unseres Volkes, der Räuber seines Friedens, der abgefallene Mönch ist, dessen Andenken in Nacht versank. Zwischen diesen beiden Anschauungen gibt es weder Vermittlung noch Verständnis. Darum lesen und lernen wir, was im Buch steht.“ – Der „simultane“ Unterricht in der Geschichte hat seit jenen Tagen meine Freundschaft verloren und hat sie nimmer gewonnen.

 Noch eine persönliche Erinnerung. Ein ehrenwerter Priester war mit mir an derselben Klasse tätig – er hatte Abteilung A, ich die Klasse B. – Heimgekehrt von der Feier des 400jährigen Geburtstages Luthers, an der die evangelische Gesamtgemeinde Regensburg trotz aller ihrer Gegensätze einheitlich in die Erscheinung getreten war, traf ich meinen Kollegen, der mir – ich glaube, aus einem Brevierabschnitt – die Jesajasworte auf Nebukadnezar für Luther