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ging und nun von allen Dörfern her die Glocken schallten und die Leute zu der Kirche gingen, um das Leiden ihres Herrn zu begehen. Nenne man es Gewohnheit, aber niemand soll sie schelten! Spreche man von der Macht des Herkommens, niemand soll es uns stören! An Gewohnheit und Herkommen setzt sich leicht Rost an, aber den Rost beseitigen ist besser als Goldblech einführen. Halte, was du hast! Nicht: wähle Neues, ehe das Alte verbraucht ist!

 Um unserer Väter willen, ja aus Gewohnheit sind wir Lutheraner. In dieser Gegend haben sich viele Salzburger niedergelassen. Die Namen bezeugen es und der „Schaitberger“, das ist, sein Sendbrief beweist es. Warum haben eure Väter vor hundertsiebzig Jahren ihre schöne, bergereiche Heimat verlassen und mit dem Flachlande vertauscht und das Heimweh überwunden, das ihnen so hart zusetzte? Weil sie ihren Glauben bewahren wollten, den teuern, durch die Jahrhunderte in Lied und Spruch und Wort bewährten teuern Glauben. Sie haben für ihn einen guten Kampf gekämpft und ihren Feinden Achtung abgenötigt, als sie so gar arm, nur die Bibel unter dem Arm und den Wanderstab in der Hand, von dannen zogen. Und dieses Bekenntnis soll unwert sein, für das gelitten, gestritten und gestorben ward? Die Geschichte soll nichts mehr bedeuten und das Augenblicksgefühl, dieses schwächliche, lebensunfähige Kind einer ungesunden Verbindung von Erregung und Phantasie, soll alles sein? Die kernfeste Art der Väter wird verachtet, die neuesten Fündlein sollen gelten. Dort die Beweisung in Geist und Kraft und Leben, hier die oft unklaren und unzusammenhängenden Einzelvorgänge, deren Wert im Persönlichen nicht verkannt werden soll, deren Gemeinverbindlichkeit aber nicht anerkannt werden kann! Der geschichtliche Sinn geht eben der modernen Heiligungsbewegung ganz ab, so im Rückblick wie im Ausblick. Sie kennt das Gewordensein nicht an, sie duldet auch nicht das Geheimnis langsamen Werdens.

 Aber, hält man uns vor, ein Kirchenvater sagt doch nicht umsonst: „Christus spricht nicht: Ich bin die Gewohnheit, sondern: Ich bin die Wahrheit!“ Aus Gewohnheit Lutheraner sein ist ein Unding. Was man nicht erwirbt, hat man nicht zu eigen. Das Ererbte allein tut es nicht. Es ist wohl zu erkennen, daß in unserem Landvolke die Gewohnheit nicht nur eine tragende, sondern auch eine trägmachende Kraft ist. So braucht uns niemand erst als Neuigkeit mit Schadenfreude zu berichten, daß in sogenannten „kirchlichen Gegenden“, wo sichere Abendmahlszahlen

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Hermann von Bezzel: Warum bleiben wir bei unserer Kirche?. Buchhandlung der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1906, Seite 6. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Warum_bleiben_wir_bei_unserer_Kirche.pdf/6&oldid=- (Version vom 10.9.2016)