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heilig“. In das tägliche Leben jubelt und klingt das „Nun freut euch, lieben Christen gmein!“ mit der Lobsagung für alles, was der Herr Gutes an unserer Seele getan hat. Aber mahnend und warnend kommt dann „Dies sind die heiligen zehn Gebot!“ Dem Ehestande gilt sein Lied und den „gemeinen Kindern“ aller Stände und Lande, bis es in das ernste ‚Memento mori‘ des „Mitten wir im Leben sind“ ausklingt. Über allem aber tönt und dröhnt sein Sturmgesang und Schlachtlied, das mit trotzigen Tönen anhebt und mit siegesgewissen Klängen hinausschmettert, hinaufjauchzt bis in die ewigen Höhen: „Ein feste Burg ist unser Gott“ ... „das Feld muß Er behalten!“ Mit diesen Akkorden in göttlicher Reichsunmittelbarkeit hat Luther den deutschen Choral intoniert, so voll und rein, so reich und tief, und ein Heer gottseligster Sänger ausgerufen. Alle Klänge, die das Menschenherz erregen und bewegen, erwecken und erschrecken, trösten und erquicken, sind nun gelöst. Worte werden zu Musik, die Musik kleidet sich in Worte. Die Weise schmiegt sich an die Dichtung, der Sang an die Melodie an. Da ist keine Sprache noch Rede, da man nicht die Stimme des Chorales hörte!

 Die großen Tonmeister haben den Choral figuriert, einbezogen, durchgeliebt und durchgebetet. Und eine lichte Wolke von Zeugen an dem Orte, wo „die lieben Engelein selbsten Musikanten seind“, bezeugt es im tausendfachen Chor der Anbetung, was ihnen, als sie noch „ferne in ihrem Tränenlande“ waren, der Choral gewesen ist, in den sie ihr Herz hineinlegten, aus dem sie ihr Heil gläubig holten. Wo besitzt eine Kirche solche Geschichte in Sang und Klang? Hat Rudolf Kögel Geschichten zu den Psalmen gesammelt, so täte es wohl not, eine Geschichte nicht des Kirchenliedes zu schreiben – die ist längst geschrieben und von einer Geschichte der Melodien begleitet, ein Meisterwerk zum andern gesellt – wohl aber zum Kirchenliede: der lutherische Choral in der lutherischen Kirche. Da würde mancher Seitenblick lehren, daß unsere Widersacher nicht nur denken nach Luthers Weise oder reden mit seinen Worten, sondern auch singen, wie er singen lehrte.

 An diesem ungehobenen, unausgebrauchten Schatze geht eine Schar von Lutheranern vorüber und nimmt aus dem: „Reichsliederbuch“ – ein bitterer Vergleich liegt nahe! – diese süßlichen, kernlosen Lieder und diese saftlosen Melodien, die mehr sinnlich als erbaulich wirken. Ein reicher, wohlbebauter Garten voll von „Gewächsen schönster Art, stehend in Blust und Lieblichkeit“, wird verschmäht und daneben liegt

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Warum bleiben wir bei unserer Kirche?. Buchhandlung der Diakonissenanstalt, Neuendettelsau 1906, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Warum_bleiben_wir_bei_unserer_Kirche.pdf/11&oldid=- (Version vom 10.9.2016)