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immer auf kranke Zustände schließen läßt, wie die Blüte der Schwertlilien auf sumpfigen Niedergrund, zur Synthese von Einst und Jetzt uns anleiten. Wie das Auftreten der Sekte am Kirchenkörper einmal dessen krankende Stellen aufweist zur Anklage auf Versäumnisse in Kirchenschlaf und Nachlässigkeit, auf Schablone und Veräußerlichung, zum andern die dem Organismus noch beiwohnenden Kräfte gesunder Reaktion gegen Fäulnis und Zersetzung dartut, so hat die Innere Mission, so oft sie, ob mit diesem jetzt 80 Jahre alten Namen genannt oder ohne ihn auftrat, die Wunden am Volkskörper bloßgelegt, die sie riefen und ihre Hilfe und Heilkraft begehrten. Mit dem Humanitarismus in Pflege und Wendung der äußeren Not sich berührend, ja zu friedlichem Wettkampf mit ihm bereit geht sie doch weit über die ihm sich ergebenden Gebiete und Grenzen hinaus, blickt auf den Grund des Leids und seine Begleiterscheinungen, greift an das Herz des Volkes und lauscht dem heimlichen Klagen und Fragen. Das tat sie einst, das tut sie noch jetzt, so daß sie ihrem Selbstsein untreu und es aufheben würde, wenn sie nimmer so täte.

 Aus tastenden, schüchternen Anfängen, die Aufgaben und Arbeiten mehr aufsuchten als fanden, ist jetzt das vielverzweigte Werk herangewachsen, dem die Aufgaben täglich vor die Türe gelegt werden. Die Innere Mission ist beinahe zur Panazee geworden, welche die Einzelpflicht zu lockern und die Verpflichtetheit der Gesamtheit an und für den Einzelnen in Abrede zu nehmen sich anschickt, um die große Arbeit etlichen Berufsarbeitern zu überbürden, die, ohne es zu wollen, zu „Religiosen“ werden, weil die religio – in weitesten wie im ursprünglichen Sinne dieses Wortes – aus dem Volksethos wie aus der Individualempfindung zu schwinden droht. Innere Mission, das Kind der Ausnahmzustände, Begleiterin und Verkündigerin der Ausnahmsverhältnisse, schickt sich an – so sehr ist der Blick für Ausnahmen durch deren massige Häufung abgestumpft und so sehr hat der Anblick des Krankhaften und der Karikaturen des Lebenskräftigen und Gesunden Gewöhnung emporgebracht, – die eigentliche Regel zu werden. Elle sait tout, elle veut tout, elle fait tout. Wir werden es beklagen, bestreiten und bekämpfen und können es doch begreifen. Die Not der Zeit will sich mit ihr identifizieren, und die Hilfe in der Not ist wertvoller als ihre Verhütung.


Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Grund, Kraft und Ziel der Inneren Mission. Buchhandlung der Diakonissenanstalt Neuendettelsau, Neuendettelsau ca. 1914, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Grund,_Kraft_und_Ziel_der_Inneren_Mission.pdf/7&oldid=- (Version vom 24.10.2016)