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statt des Glaubens an Jesum das berüchtigte religiöse Interesse hereingenommen und statt des Ernstes des Kirchenbesuches die religiöse Angeregtheit bescheidentlich in Empfang genommen und haben alle möglichen Konzessionen gemacht und vergaßen, daß der Mensch nicht bloß sich verächtlich macht, sondern auch das Gute, für das er kämpft, wenn er immerzu einräumt.

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 Jetzt ist es an der Zeit, daß wir für all die Gestrandeten noch etwas tun: Seelsorge, Lehrdiakonie an denen, welche die Welt ganz ausstößt und verwirft, an den armen Verlassenen und Verlorenen, es soll uns nicht gereuen, Gott wird es segnen. Es geht ja wahrlich sauer genug ein, daß das die ganze Arbeit sein soll; dafür lernt man, dafür lebt man, bis endlich die Erkenntnis aufgeht: Eine Menschenseele ist immer der anderen gleichwertig. Es ist ein heidnischer Wahn, irgend eine Seele einer andern vorzuziehen, vorzuordnen und sie zu überschätzen, bis man endlich gelernt hat, – wozu freilich eine große Kraft der Selbstverzichtung gehört – in dem entstelltesten Menschenbild das Bild des göttlichen Künstlers zu entdecken und aus ihm wieder herzustellen. Möchte, da jetzt vielleicht für unser Haus auch eine neue Zeit nach der Richtung gekommen ist, alles aufgeboten werden, damit wir Raum haben für all dies Elend, für das Elend der Kinder, die ihrer Eltern sich schämen müssen, für das Leid der Armen, die ihre eigenen Väter und Mütter in die Schauerlichkeit der Sünde verstoßen haben, für die vielen zerbrochenen Gefäße, in welche doch auch einmal die Gnade hineingesenkt ward, für die zerrütteten Existenzen, die um eine falsche Flamme sich bewegten, bis die Flammen sie beinahe verzehrten. Wenn unsere Diakonissenhäuser, wenn nur dieses Diakonissenhaus seine höchste Ehre in dem Sacharjawort erblickte: „So will ich meine Hand kehren zu den Kleinen“; wenn dann wieder diese erbarmende Diakonie anbräche, die durch Stadt und Land mit der Frage zöge: Braucht ihr mich noch, begehrt ihr mich noch, habt ihr noch für mich etwas zu arbeiten?, um dann aus den Höhlen des Lasters, aus dem Winkelwerk der Großstadt, aus den Armenhäusern der Dörfer ein vielstimmiges, ob auch noch so mißtöniges: Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser! zu vernehmen. – Es geht, – und das ist der Trost, daß Jesu Kraft nie ganz vergessen werden wird, und die Gewißheit, daß Sein Oel und Seine Salbe, der Wein Seines Trostes und Seiner Samaritertreue nie ganz ausgetan werden wird, – durch die Welt ein Schrei nach individuellem Erbarmen, nicht nach anstaltlicher Abfertigung, nicht nach Kasernierung einer zünftigen Barmherzigkeitsübung, sondern nach der individuellen Barmherzigkeitserweisung: Jesu lieber Meister, erbarme dich meiner! Wir haben uns durch die