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abheben, zu dem großen Gegensatz der Dürftigkeit der andere trete: Um Jesu willen muß ich mich dein erbarmen und will mich deiner annehmen, wie es recht ist.

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 Habe ich ganz unrecht, wenn ich sage: 70 Jahre ist die weibliche Diakonie in unserer Kirche von dem Herrn wie ein zartes Reis behütet worden, Er hat seine schützende Hand über demselben gehalten und hat es umgeben und betaut und seiner gewartet, daß es eine Lust zu sehen war, aber Er will als Erfolg seiner Arbeit, daß das Reis Wurzel schlage, erstarke und stämmig werde? Er will Seine Hand zurückziehen und einen kleinen Augenblick die Arbeit verlassen, hinter ihr zurücktreten und sie prüfen, ihr Wachstum überschauen. Wir stehen in der Zeit, da der Herr, da man seine allernächsten Offenbarungen sehnlich erwartet, schweigt, gehen den Jahren entgegen, da der Herr, wo man unter Seinem Verziehen und unter seiner ungemeinen Reserve so schwer leidet, auf alle Anrufung scheinbar nicht hört. Wieder hat sich das arme Weib aufgemacht und dem Richter hart angelegen: Rette mich von meinen Wiedersachern, aber es war, als ob ringsum ein tiefes Schweigen allem entgegenstünde. Da wird die Kirche gewahr, daß der Herr jeweils im Dunklen wohnt, und daß Er es sich gefallen läßt, im Verborgenen zu arbeiten und sie bittet nur um das Eine, daß Er sie heimlich in Seinem Gezelt verbergen wolle. Es gehört ein großer Mut dazu, alle Stützen fallen, alle Hilfen brechen, alle Siege zu Verlust gehen zu sehen. Es ist, wie wenn ein das Herz erstarrender Schmerz durchs Leben zöge, und man spürt erst, wie man mit den Lebenserscheinungen verbunden war, statt mit dem Leben selbst verbunden gewesen zu sein. Man wird erst, wenn der Herr nimmt, gewahr, wie weit man sich mit Symptomen Seiner Gnadenhilfe abfindet, statt daß man Seine persönliche Gnade ohne jede weitere Gabe sich zu Herzen und Gewissen nähme. Aber in diesen Zeiten spricht der Herr freundliche Worte, treuliche Worte, holdselige Worte, in diesen Zeiten gibt er die Kraft des Leidens. Die Kirche Jesu würde ihrer hohen Aufgabe beraubt werden, und die Tochter der Kirche, die weibliche Diakonie ihrer hohen Arbeit entäußert, wenn sie nicht den Freudenmut hätten, mit ganzem Ernst zu sprechen: Ich hange nicht an Deinen Gaben, Dich Jesum such ich ganz allein. Das sind immer die großen Zeiten in der Kirchengeschichte, wo der Herr gleichsam die ganze Weltentwicklung mit einem einzigen Händedruck beiseite schiebt und die einzelnen Menschen mit Ihm allein reden heißt. Das sind immer die eigentlichen Höhen, auf die der Herr Seine arme, leidende Gemeinde führt, wenn er alles, worauf sie Wert legt, die Kennzeichen Seiner persönlichen Einwirkung entzieht, wenn