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Himmel hoch, da komm’ ich her, ich bring euch gute neue Mär“, – und wenn sie treulich später aus ihrem Katechismus lernen, daß der Herr alles uns gegeben habe, auf daß wir sein Eigen seien und in seinem Reiche unter ihm leben. – Weil er ein Mann des Willens und ein Kind des Glaubens, ein Held des Kampfes und doch voll Liebe war; weil er so gar nichts sein wollte, konnte er so viel sein. Wir lassen uns gerne heute von ihm zurufen: „Weint nicht, die Kindlein beten für uns!“ –

 Ich bin am Schluß. Als der große Meister Michel Angelo Buonarotti einst in einem florentinischen Kloster nächtigte, zeigten ihm die Mönche einen mächtigen Marmorblock. Bei dessen Anblick sagte er: „Welch’ ein Christus steckt in diesem Block! Während er schlief, machten die Mönche treulich sich auf und arbeiteten mit Meisel und Hammer die Nacht durch, um aus dem Steinblock den „verborgenen Christus“ hervorzuholen. Es gelang ihnen nicht, aber am anderen Morgen zeigte der Meister die Kunst und ließ den Meisel fallen, den Hammer spielen und seine Weisheit Rat geben, und ehe der Abend kam, war das Christusbild vollendet.

 Welch’ ein Christus steckt in diesem deutschen Volk trotz aller Verzerrungen, Mißbildungen und Mißgefüge! Aber kommt nicht, mit harter, plumper Hand, das Geheimnis herauszuzaubern! Laßt euch nicht beigehen, mit ungeschickten Fingern das Wunder zu enträtseln, sondern mit betendem Ernst, mit liebendem Eifer, mit treuer Sorge geht herzu, Eltern, Freunde, Erzieher und gestaltet aus Kinderherzen das Geheimnis des Christussgedankens. Stellt in Kinder die Größe der Christusstreue dar. Am Kinde legt den Dank für beide. Der aber, von dem Jakobus sagt, daß er dem der Weisheit Bedürftigen Weisheit gebe, ohne Murren und ohne Vorhalt, der Gott aller Weisheit, gebe euch und uns erleuchtete Augen, daß wir am Abend die Morgenröte, am Untergang den Aufgang und in zerstörenden Zeiten aufbauende Kräfte gewahren. Er gebe uns die Weisheit, unsere Hände zu rühren, auf daß die Gestalt Jesu Christi aus der Zukunft unseres teuren Volkes erscheine.

 Er spricht in dieser Abendstunde: „Weil du bist vor mir wert gehalten, darum habe ich dich lieb, darum will ich auch meine Geduld über dir verlängern. Und flüchtend in den Schatten dieser zuwartenden Geduld, dieser hoffenden Liebe, glauben wir, es werde unserem Volke noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, ein Frührot geschenkt und unserer Kirche Luthergeist und -Gabe nicht ganz verkümmern.

 In solchem Glauben treten wir ans Werk, ein jeder an seinem Teile, erziehen die Kinder und werden wie die Kinder, damit wir ernstlich und heilig nach Wille, Weise und Gabe endlich Den erblicken, in dessen Wille unsere Seele einst Gedanke war, zu dessen Willen unsere Seele als Wirklichkeit zurückkehren soll.


Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Die Pflege der Kindesseele. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1918, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_Pflege_der_Kindesseele.pdf/16&oldid=- (Version vom 8.9.2016)