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 Gebt dem Kinde die herrlichen Bilder unserer deutschen Märchen, so wie sie vielleicht Heinrich Vogel illustriert hat in dem wunderbaren Märchenbuch von Grimm. Zeigt ihnen die Herrlichkeiten auch der Bilderbibel und glaubt nicht, daß man dem Kinde den Anblick des Gekreuzigten fernhalten müßte, weil dieses Bild so leicht den Sinn verwirre. Die ahnende Seele sieht in der Schmerzensgestalt eine wunderbare Liebe ausgegossen, in dem Leiden, ich möchte sagen, die geheiligte Schöne der Treue. All die Bilder, wie sie mit deutschem Griffel mit evangelischem Ernst Schnorr von Karolsfeld in seiner Bilderbibel uns darstellte, mögen dem Kinde langsam gezeigt werden, damit seine Seele mit wunderbaren Gestalten sich bereichere und erfülle, die es im Schlafe denkt, mit denen es im Wachen sich beschäftigen kann. Statt daß ihr die Kinder immer wieder ihre Geistreichigkeiten erzählen laßt, laßt sie Geistreiches hören. Zwar ein geliebter Erzieher, Jean Paul, ein Mann, auf dessen Worte ich gerne höre, sagt in seiner „Levana“, man solle nie mit Kindern beten, vor allen Dingen seien Tischgebete für die Kinder eine Tortur, sie wollten essen, nicht beten. Und doch meine ich, das erste Gebet, dass das Kind von seiner Mutter hört, die gefalteten Hände, die es bei seiner Mutter erblickt, sind Gewalten, die das Kind in die Ferne seines Lebens, in die Weite seiner Entwickelung, bis an das Ende seiner Tage geleiten. –

 Das sind Großtaten der Mutter für ihr Kind. Das Kind weiß sich, wie die Mutter, von Gott abhängig und sich und die Mutter, die geliebte, in Gott geborgen. Sagt also dem Kinde manchmal ein kurzes Gotteswort und glaubt nicht, es müsse alles verstandsmäßig erklärt werden. Wir Alten müssen so viel lernen, können uns auch manches nicht erklären und setzen dann mit der Willigkeit des Glaubens ein, nicht weil wir müßten, sondern weil wir wollen. Unser ganzes Erkennen bleibt als ein dürftiges, stückweises, hinter den großen Objekten weit zurück. Wir sehen nur Stück um Stück und wenn eines uns klar geworden ist, entzieht sich das andere, das eine kommt, das andere entschwindet. Sollten wir denn unseren Kindern zumuten, daß sie alles auf’s Trefflichste und Klügste verstünden? Wollen wir nicht Gott trauen, daß er das schlichte Wort dem Kinde recht gedeihen läßt? Aber freilich nicht Ueberlastung und Ueberfüllung des Kindes mit heiligen Dingen. – Von jenem Pfarrerssohn aus Schwabach in der Mitte des 18. Jahrhunderts, Claude Barratier, dem Sohne eines französischen Geistlichen, wird erzählt, daß er mit 3 Jahren Französisch, Latein und Englisch fertig sprach und daß er das ganze Neue Testament wiederholt gelesen hatte. Mit 9 Jahren hatte er so ziemlich alles gelernt, was ein Mann zu lernen hat. Mit 18 Jahren ist er an der Auszehrung gestorben. –

 All diese Frühreife, besonders im Geistlichen, die Ueberfüllung des kindlichen Gedächtnisses mit Sprüchen und Liedern erzeugt leicht ein Mißtrauen gegen Gott, als ob er durch Quantitäten seine Gemeinde erbaue und erweckt ein Mißbehagen an dem Herrn, der durch Fülle geben wolle, was die Einfalt sich versagt sieht.

Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Die Pflege der Kindesseele. Verlag der Buchhandlung des Vereins für innere Mission, Nürnberg 1918, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_Pflege_der_Kindesseele.pdf/10&oldid=- (Version vom 8.9.2016)