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Vollendetheit seiner Anlagen, Fähigkeiten und Kräfte oder deren Karikatur sein. Der Mensch stirbt an seinen Göttern oder lebt von und in seinem Gott. Was die Kirche ewiges Leben nennt und was sie als ewigen Tod lehrt, ist einmal Leben, das, in sich beglückt, immer weitere Kreise zieht und immer größere Geschichte erfährt und bewirkt, oder Leben, das unter Berge und Hügel vor sich flüchten möchte und in unablässigem Selbstreflex verlangend zum Sterben sich anschickt, das immer wieder in Leben umbiegt. Es ist gut, seine Tage in der Gewißheit, daß sie uns erwarten, Stunde um Stunde zu zählen und so ein kluges Herz zu bekommen, das reich genug ist, um arm werden zu können, und arm genug sein will, um reich werden zu dürfen. Und es ist rätlich und heilsam, jedweden Ort – in quovis angulo habe respectum tui angeli „in jedem Winkel habe Ehrfurcht vor deinem Engel“, meint Bernhard von Clairvaux – mit Schritt und Spur zu zeichnen, die ins ewige Leben weisen.

 Was aber in Zeit und Raum geschieht, um das Vergängliche seines vorbereitenden und gleichnishaften Charakters zu berauben und die geringe Welt zum bleibenden Wohnsitz der Menschheit zu erheben, was mit dem Dienst an das Enteilende und Unwesentliche anhebt und in der Sklaverei der Sünde endet, das erweckt in der auf Unermeßlichkeit und Ewigkeit angelegten Seele, die ihrer Anlage unter Entartung und durch sie eingedenk wird, das große, tiefe, schweigsame Heimweh nicht eines müßigen Weltschmerzes, der den Tod als Erlösung und die traumlose Ruhe des Grabes oder die im Äther verschwimmende Wolke, in die das Irdische verloht, als Verklärung feiert, sondern das Heimweh, von dem übermächtigt der scheidende Herr nicht frommen Wunsch und treue Fürbitte, sondern ernsten Willen aussprach (Joh. 17, 24), daß, wo er sein werde, die Seinen bleiben sollen. Hineingestellt in eine Welt des Stückwerks, das den Ruhm des Vollendetseins begehrt, umtost von dem Lärm des Marktes, der das Eitle liebt und das Richtige anpreist, umdroht von der Gewalt der Verführung, die sich an die mit der Schönheit des in Gnade gefestigten Charakters Angetanen wagt, von der Lüge verspottet, die den Thron der Wirklichkeit ersteigt, um auf ihm als Wahrheit zu erscheinen, hebt der Christ, dessen Füße schier straucheln und dessen Augen übergehen, von dem „Standfest des Glaubens“, wie Luther so gerne sagt, Herz und Hände empor: „Heilige uns in deiner Wahrheit!“ (Joh. 17, 17), „Heiliger Vater, erhalte uns in deinem Namen!“ (Joh. 17, 11).


Empfohlene Zitierweise:
Hermann von Bezzel: Die Heiligkeit Gottes. Dörffling & Franke, Leipzig 1916, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Hermann_von_Bezzel_-_Die_Heiligkeit_Gottes.pdf/5&oldid=- (Version vom 9.9.2016)