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Menschenbild mit unreinem Hauch entweiht, Liebe, Treue ihm zum Spott gemacht ist, scheint nicht zu Worte zu kommen gegenüber der Tatsache des le roi s’amuse. Ich fragte vor Jahren einen Rechtsanwalt, der weit her aus den Ostseeprovinzen ein aus dem öffentlichen Hause der Schande von ihm gerettetes, für seine Lüste dann dienstbar gemachtes Mädchen in die Heimat zurückgebracht hatte, um es vor weiterer Schande zu bewahren, selbst seiner überdrüssig geworden, ob denn keine Reue bei solchem Tun gespürt und keine Scham empfunden würde. Er erwiderte mir, ob ich ein leidendes Ohr oder ein krankes Auge für schimpflich hielte. So wenig das zur Unehre gereiche, so wenig sei die Verletzung der sog. Keuschheit bei Mann und Weib zu beanstanden. Aus solchen mit innerem Ueberzeugtsein vorgetragenen Argumenten ist es begreiflich, wie alte Sittlichkeitsbestrebungen verlacht und verhöhnt werden, wie seinerzeit der Feldzug der Pall-mall Gazette in London – the outcast – persifliert werden konnte: Sensationelle Enthüllung aus dem Leben der Miß Pal Mal Gazelle von Minchen Schnigg. Stöckers ernste Bemühungen wurden mit dem Hohn von der moralischen Heilsarmee in Berlin abgetan, Oskar Panizza in München schrieb über die Unsittlichkeitsentrüstung der Pietisten die „freie Literatur“, Georg Reben über „die Eselsbrücke der Sittlichkeit“. Wer einmal den „Pfaffen“ des Simplizissimus ansah, der in Hofbuchhandlungen ausgeboten wurde, und den Hohn las, der über den Kandidaten ausgegossen ward, der seine radfahrende Mutter fragen kann, ob sie noch an Gott glaube, den geschäftigen Superintendenten betrachtete, der auf seinen Wanderungen durch Tirol immerfort seiner Frau und den Kindern den Hut vorhalten muß, damit sie nicht durch den Anblick des Gekreuzigten an ihrer Sittlichkeit Schaden und Einbuße leiden, – mag ermessen, mit welchen vergifteten Waffen gegen die gestritten wird, die noch den Mut haben, Zweideutigkeiten zu entlarven, Eindeutigkeiten zu strafen, das Volk an sein gutes Recht zu mahnen. Tacitus sagt von unsren Vorfahren: nemo illic vitia ridet, nec corrumpere aut corrumpi saeculum vocatur. (Germ. 19.) Bei den Deutschen lacht niemand über schändliche Dinge, verführen und sich verführen lassen heißt nicht guter Ton. – Zu den Romanen, Novellen, den Bildern und Zeichnungen, die im Nacktkult schwelgen, gesellt sich das Lied, nimmer das deutsche, sondern die gemeine Zote und die klingenden Verse der Bordellpoesie. Liebe ist nach Goethes herrlicher Erklärung im Tasso ein Besitz, der ruhig machen soll. Aber was da Liebe heißt, dem gilt Heines Wort: die Teufel nennen es Höllenmord, der von der Begierde zum Genuß taumeln und beim Genuß vor Begierde verschmachten heißt. Manche Lieder in studentischen Kommersbüchern sind nimmer Minneklänge, nicht einmal mehr Preise leidenschaftlicher Natürlichkeit, sondern rüde Plattheiten, die man kaum mit deutschen Buchstaben zu drucken wagt. Daß unsre Studenten, die künftigen Berater und Leiter des Volks, die spes ac decus patriae, wie ich vor Jahren las, das „Opfer an die strenge Göttin der karnalen Enthaltsamkeit“ belächeln, die Keuschheit in