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erklärliche Deutung und Milderung des Unreinen wegfällt, so sehen wir in der feineren Belletristik, in unsren zerlesenen fettigen Leihbibliothekromanen bis zur „Jugend“ und zum „Simplizissimus“ den Grundsatz vertreten, daß „das durch die Kultur unsrer Tage verbotene Erotische von der Kunst dargestellt werden muß, weil es einem tiefinneren Bedürfnis des Menschen, einer Sehnsucht nach der Ergänzung seiner lückenhaften Existenz entspreche.“ Ueber den Grad und die Art der Schilderung entscheiden keine moralischen, sondern lediglich ästhetische Erwägungen. Die Aufgabe des Dichters, des Romanschriftstellers ist nur, die Uebertretung des Sittenkodex so zu schildern, daß sie sich aus der ganzen Handlung, aus den Charakteren, den äußeren Verhältnissen mit Notwendigkeit ergibt, dann tritt der unmoralische Inhalt in den Dienst der Illusion (H. Lange: Das Wesen der Kunst, Berlin 1901, II. S. 171–177). Denn, belehrt uns ein andrer, in dem wirtschaftlich determinierten Frondienst durchschnittlichen Geschicks, in der Abenteuerarmut und Monotonie eines zivilisierten geregelten Lebens bringt die Erotik allein die individuellen Farben in manches Dasein. Dadurch wird Frank Wedekinds Drama „Frühlingserwachen“, das die ersten unreinen Regungen der Kinderwelt schildert, und der Roman von Oskar Schmitz „Lothar oder Untergang einer Kindheit“, die Schilderung der freien Liebe in Peter Nansens „Maria“ und Sudermanns „Heimat“ hoch zu preisen sein. Wenn vollends ein Pastor, Doktor der Theologie, zudem ein Ehrendoktor derselben schreiben kann: „Die bürgerliche Sitte ist die große Mörderin, sie mordet dir und vielen deiner Schwestern die Jugend, wo die bürgerliche Jugend geht und steht, da geht und steht als eine alte jugendfeindliche Tante die Sitte und verdirbt die beste Lebenszeit euch armen Mädchen“, so sind Hella Andersen und Anna Boje Ideale der Weiblichkeit. Unreine Auffassung der Beziehungen zwischen Mann und Weib ist die Folge des Ueberwucherns der sexuellen Probleme in der schönen Literatur. Die Lüsternheit im Philosophenmantel, den sie anmutig über ihre Schultern drapiert, die Gemeinheit in dem Scheine der mystischen Lampe, die heiße Denkerarbeit, welche die beiden Geschlechter zu andächtiger Beschaulichkeit und Beschauung einladet, die Anbetung des Schönen, des Gottbildlichen und des Gottesbildes, wer möchte und könnte dem widerstehen, sonderlich wenn weltunfrohen Rigoristen das Goethe’sche Wort zugerufen werden darf: „Fürchte unter diesen Launen, diesem ausstaffierten Schmerz, diesen trüben Augenbraunen Leerheit oder falsches Herz.“ Und wie wirkt für alle, die gegen das Unreine, ob es zierlich einhertänzelt oder pathetisch einherschreitet, Zeugnis ablegen, weil ihr Gewissen und die Liebe zum Volke sie treibt: „Aber sollt in unsre Lieder sich einmal ein Zötchen schleichen, kriegen die ihr Platzgeld wieder, die erröten oder -bleichen!“ Denn, orakelt die Jugend, verstoßen wir dreist gegen die gute Sitte, das mögen die Leute ganz gern, aber nur nicht gegen den guten Geschmack. Aesthetik siegt über die Ethik, die Sinnlichkeit über die Sittlichkeit, und ist nicht