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nie ablösen von den persönlichen Erfahrungen ihres Vaters in Christo, weil seine Erfahrungen die betonten Gesamterfahrungen sind, und in diesem Vater mit all seinen Fehlern und Gebrechen, die ihm auch übelwollende in Gewalttätigkeit andichten, mit seiner Derbheit, mit seiner furchtbaren Zornesglut und seinem verzehrenden Feuereifer erblickt die Kirche dankbar den begnadigten Sünder, den erlösten Knecht der Sünde. Darum lauscht sie den Worten des Mannes, der es aus eigenem Sterbensweh erfahren, was es mit der Freude in Christo sei, der in seinem Leben voll Sünde, in seinem Lieben voll Gnade gewesen ist. An dieser Lehre aber, daß Christus allein uns hilft, daß Er allein rettet von allem Weh der Sünde und des Todes, hat unsere Kirche dogmatisch festgehalten auch in ihrem tiefsten Verfall.

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 Es ist ja in neuerer Zeit geradezu zum guten Tone geworden, von der „toten Orthodoxie“ zu reden, durch die zu viel Gewicht auf Lehre, zu wenig aufs Leben gelegt worden sei, als ob je Lehre und Leben wirklich geschieden werden könnten! Aber man soll ja wohl bedenken, daß in dem Jahrhundert der berüchtigten Orthodoxie Paul Gerhardt die Harfe so mächtig gerührt hat zum Preise des guten Hirten, daß er in vollen Tönen den Hymnus des Lammes rauschen ließ, den niemand verkündigen darf, als der mit dem Blute des Lammes Erkaufte. Man soll wohl bedenken, dieses Jahrhundert mit seiner Steifheit und scholastischen vereinzelnden Begriffsbildung war doch ein Zeitalter, welches die Lehre von Jesu Christo und Seiner Gnade festgehalten hat. Die alten Dogmatiker haben Ehrfurcht vor dem Worte gehabt, und ob sie auch unfrei zum Worte standen – besser die unfreie Befangenheit des treuen Knechtes, als die Freizügigkeit und pietätlose Willkür des undankbaren, wenn gleich herangewachsenen Sohnes. Und der dreißigjährige Krieg mit den Strömen des Blutes und den Flammen rauchender Städte ist doch nicht im Stande gewesen, die Liebe auszulöschen, noch zu ersäufen [Hohelied 8]. Hätte unsere mißachtete, in den Schreckensjahren