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Da er alles, was Menschentum lehrt und leidet, erfahren, erfaßt und erlebt hatte, da konnte er, ehe er es vollbracht hatte, sagen: es ist vollbracht! Und der Knecht redete zu seinem Herrn: es ist geschehen, was du gesagt hast. Wie in dem Drama des großen Dichters das Vorspiel und die Einleitung die Züge andeuten, die das eigentliche Drama durchleben und durchgeisten, so hat unser Herr das ganze große Drama seines Lebens Jahr um Jahr vorgeschaut, vorgerüstet, vorbereitet, bis endlich das Kreuz sich erhob und der Menschensohn, der Gottes Sohn zugleich war, sterben konnte. – Das ist die Wirklichkeit der Menschwerdung. Fragt ihr: was ist der Mensch? so antwortet kurz die Schrift: der einzigartige Gottesgedanke ins Fleisch getreten. Fragt ihr euch, Geliebte: wie wird der Mensch zum Manne? wie reift er heran zur Größe des Lebens? Durch Leiden und Verzichten, durch Gewinn und Verlust, durch das Ja und das Nein des Lebens. So ist euer Heiland ganz in die Echtheit des Menschentums hineingewachsen auf dem langsamen, steten, einsamen Wege der Menschheitsgeschichte und der Menschenentwicklung. Und als er die Höhe des Lebens erstiegen hatte, da durfte er es verlassen. Ob ich die Temperamente frage, so antworten sie: alles, was wir dem Menschen aufprägen, natürliche Züge von der Gnade beschienen, Gnadenführung von der Natur gehemmt, alles das hat der Herr in sich dargestellt. Stürmisch in der Gewalt seines heiligen Naturells, geduldig in der Stille seiner wartenden Natur, von der Freude in den Schmerz, von der Trauer in die Fröhlichkeit hinübergehend, tiefernst und schwer sinnend; was du Temperament heißest, das hat er alles erfahren. Und wenn es des Mannes ist, zu wagen, des Weibes zu wägen, wenn es des Mannes Ehre ist, etwas nach außen zu gestalten, und des Weibes hohes Vorrecht, nach innen zu sammeln, so hat der Herr diese beiden Unterschiede in sich vereint. Mit zartem Empfinden hat er die Eindrücke in sich hereingenommen und auf sich wirken lassen und mit der Unmittelbarkeit männlicher