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gegeben und ging hinab und war denen untertan, die vor ihm sündigten – aber er selbst blieb ohne Sünde. Noch einmal frage ich euch: sind das Phantasien? Sind das ausgeklügelte Fündlein, oder sind das nicht vielmehr große Worte, daß man sie durchbete und durchlebe bis – nicht die Seele ihrer mächtig geworden, das geschieht nicht, sondern bis sie deiner Seele mächtig geworden sind, also daß ich sagen kann: „ich freue mich in dem Herrn und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott?“ (Jes. 61, 10.)

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 Und dann hat er achtzehn Jahre lang geschwiegen. Über diesen achtzehn Jahren ruht der keusche Schleier des Geheimnisses. Was er in den achtzehn Jahren, in denen der Knabe zum Jüngling, der Jüngling zum Manne heranreifte, gelitten, getragen, gesucht und erlebt hat, das ist dann manchmal in einem Gleichnis, in einem Bildwort, in einem Wunderwerk, in einem Friedensgruß, in einer Predigt zutage getreten. Aber über die geheimsten Vorgänge schwieg er. Das ist der Duft des werdenden Lebens. So wie wir, die wir auf die Höhe des Lebens gekommen und dem Abstieg näher als dem Aufstieg sind, unsere eigene Jugend, das Geheimnis unseres Werdens, jetzt als etwas Rätselvolles betrachten, als ein Rätsel, für das es nur eine Lösung gibt: „Erbarmung hat’s so treu gemeint“, so wie wir jetzt von uns selber sagen: ich bin vor mir und vor vielen wie ein Wunder, so hat der Herr diese achtzehn Jahre vom Tempelgang bis zum Jordansweg in heiligem Schweigen durchlebt, in ernster Arbeit durchlitten. Er hat, daß wir so sagen, in jedem Baum am Wege sein Kreuz, aber auch in jedem Grab am Wege sein Ostern erlebt. Er hat seine ganze hochwürdige Passion immer durch die Jahre hindurch vorhergeschaut. Immer näher traten ihm die Gedanken von dem Kelch, den er leeren, von dem Kreuz, das er besteigen müßte. Immer vertrauter machte er sich mit dem schweren Ernste, daß der Gottessohn sterben kann. Und als er mit dem Lernen fertig war, da hieß es: „so gehe hin und tue desgleichen.“ (Luc. 10, 37.)