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der Selbsttäuschung, in diese so duftenden, in Wirklichkeit aber nach Verwesung riechenden Wunderlichkeiten des Menschenlebens hineingesehen hätte, so würdest du an dem Schwersten leiden, das es gibt, nämlich, daß du nie dich selbst erkennst, daß du 70 Jahre alt wirst und bist dir ein Fremdling geblieben. Höre, was das heißt, 70 Jahre mit seiner Seele zusammenleben aufs innigste, aufs intimste und dauerhafteste, und nach 70 Jahren sich selbst ein Fremdling sein. Und wie viele Menschen sind sich das? Wie viele Menschen erfahren erst nach ihrer Sterbestunde, wer und was sie waren. Und der Heiland hat auch diese Selbsttäuschung getragen; damit er sie aber tragen konnte, mußte er Mensch werden.

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 Du sagst wohl bei dir, o Seele: Mußte das sein? Hätte er nicht als Gottessohn in der Herrlichkeit der Ewigkeit, mit der Kraft seiner Allwissenheit das alles erfahren können? Nein, denn unser Leib vermittelt so viel, was die Seele belastet und betrübt; unser Auge führt uns Eindrücke zu, von denen wir monatelang leben. Ein einziges Wort, auch bloß gesprochen, wirkt auf deine Seele, klingt und dringt fort und deine Seele kann sich seiner kaum erwehren. Ein einziger Händedruck kann dich monatelang beschäftigen: seine Auslegung, seine Bedeutung, sein Wert und sein Unwert. Das alles muß leiblich selbst erlebt, selbst verspürt werden. Der Apostel weiß, was er sagt: „wer gestorben ist, der ist gerechtfertigt von der Sünde“ (Röm. 6, 7), weil der Anlaß zum Sündigen mit dem Leib dahinfällt. Darum ist Christus Mensch geworden, daß er alles das, was der Leib dem Menschen schadet, und was die Seele am Leibe verbricht, erfahren konnte. Unser ganzes Leben, meine Christen, ist nichts anderes, als eine fortgesetzte Rache des Leibes an der Seele und eine stete Rache der Seele am Leibe. Die Seele läßt es dem Leib entgelten, was er ihr schadet, und der Leib läßt es die Seele erfahren, was er unter ihr leidet. Ihr merkt das täglich, ihr tragt es, und Jesus trug es auch. Er hätte nie meine Fesseln mir abstreifen können, wenn