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so hatte und hat er doch nie ein Organ – der Heilige, der Gerechte, der Selige, der Allgenugsame – mit dem er die Sünde hätte empfinden können. Da hat sein Sohn sich erboten, die Sünde nicht von der Ferne bloß kennen zu lernen, nicht nur um sie und von ihr zu wissen, sondern sie an seinem Leibe, in ihren Reizen, wie in ihren Schrecken, in ihren Tiefen, wie in ihrer Höhe, in ihrem Glanze, wie in ihrem Grauen zu erfahren. Er hat seinem Vater sich erboten, er wolle in die Wirklichkeit der Sünde hinabsteigen, damit er barmherzig würde. Seht, das ist die Größe Jesu Christi, daß er jede einzelne Sünde und die Sünde insgesamt erlebte und erlitt. Alles, was die Sünde so reizvoll werden läßt, den Genuß, den sie verspricht, den Gewinn, den sie verheißt, den Augenblick der Lust, der mit der Untat erkauft wird, alles das hat unser Herr Christus auf sich wirken lassen. Ihm war die Sünde nicht ein fremdes Etwas, sondern ihm wurde sie eine nahe Wirklichkeit. Ihm war die Sünde nicht etwas, von dem er nach Hörensagen berichtete, sondern ihm war die Sünde etwas Erlebtes. Nicht, daß er mit einem Hauch seines Willens sich ihr zugewendet, nicht daß er mit einem Zug seines Wunsches sie getan hätte, nicht daß er einen Augenblick seines hl. Lebens gewünscht hätte, einmal die Sünde auf sich und in sich wirken zu lassen, aber sie hat sich an ihm versucht und er hat unter dieser Versuchung gelitten. Wenn ihm alle Reiche der Welt dargeboten wurden, hat er wohl gewußt, daß der, der sie ihm anbot, sie ihm nicht geben konnte, und doch hat er diese schwere Versuchung als Reiz und Lockung erfahren. Wenn ihm der Beifall der Menge versprochen wurde, daß er ohne Kreuz die Welt erobere und ohne Leiden die Menschen gewänne, so hat er sich immer wieder gesagt, es gebe keinen anderen Weg, Menschen zu erobern, als den des Leidens, aber die Versuchung hat er doch in sich verspürt. Ohne Fähigkeit, zu sündigen, hatte er doch die Möglichkeit, zu sündigen. Wiederum, damit er barmherzig würde und die Sünde ganz erführe, ihre seidenen Fäden,