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einer erträumten Höhe; sie kamen alle herbei und lernten, daß auch das Kleinste groß ist, wenn man es recht kennt, und daß auch das Kleinste ihm gesagt werden kann und darf. Die Seele, die sich scheute, einem Menschen ihre geheimsten Abgründe zu enthüllen, und das Leben, das sich vor sich selber schämte, und das kleine, armselige Tagewerk, das nichts aufzuzählen hatte als Ärmlichkeit, Schaum und Nichtigkeit, sie kamen alle; und er zog sie alle an sich. Und wo ein Auge tränte, hieß er es, ihm die Tränen ausweinen, und wo ein Mund im Schmerz erbebte, hieß er ihm den Schmerz kundtun, und wo ein Herz nicht mehr Worte fand für das tiefste Leid, da hat er das Leid an sich herangezogen, wie ein Magnet das Eisen an sich nimmt: „Kommet her zu mir alle!“

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 Und weiter: kommet her zu mir alle und mit allem! Auch mit der Torheit, deren ich mich schäme, und mit der Kleinigkeit, die ich kaum mehr weiß. Was dir das Bild der Heimat aus den Augen nahm, und was dir den Frieden der Kindschaft zerstörte, was die innersten Gründe deines Daseins erregte, das darfst du mir alles sagen. Und nun kamen sie von allen Orten und zu allen Zeiten und zu allen Stunden. Und als er am Kreuze hing und ihm Leib und Seele verschmachtete, sah er ein einziges Meer auf sich herziehen. Sünde hieß das Meer, und, die auf ihm heraneilten, waren Sünder. Und so hat er sie erkauft. Denn die Größe, von der unser Katechismus redet: „ganz sein eigen!“ besteht darin, daß ich nicht sein eigen bin, weil ich seiner würdig wäre, schön von Antlitz und würdig von Wesen, weil ich seine Züge unentstellt an mir trüge, den Adel seiner Reinheit und das Gepräge seiner Heiligkeit; sondern verzerrt, verunstaltet, mißraten, innerlich zerfallen und äußerlich zertragen, kam ich zu ihm hin, auf daß ich sein eigen sei. Schon das ist Erlösung, daß ich in der ganzen weiten Welt einen Menschen kenne, der nicht an mir irre wird, wenn ich mich längst aufgegeben habe. Man wird älter, man wird immer mehr seiner müde, immer mehr seiner selbst