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Heinze gezeigt haben, daß manche Herren nicht abgeneigt waren, die ganze Kunst unter Polizeiaufsicht zu stellen und auch die wohllöbliche Polizeibehörde nicht selten gegen künstlerische Darstellungen und Einrichtungen einschreitet, in denen der reine Künstler nichts Anstößiges findet.

Deshalb seien nachstehend die Gründe des Urteils vom 6. November 1893, Band 24, Seite 365 wiedergegeben, in welchem das Reichsgericht sich über den Begriff des Unzüchtigen in der Kunst äußert. Das Gericht erster Instanz hatte die Angeklagten wegen Verbreitung unzüchtiger Abbildungen verurteilt; es handelte sich bei allen um Nachbildungen bekannter Kunstwerke (z. B. Michelangelo, Tizian, Guido Reni, Palma Vecchio, Paul Veronese).

Das Reichsgericht hob das Urteil auf, indem es ausführt:

„Das angefochtene Urteil geht davon aus, die Darstellung des ‚unverhüllten weiblichen Körpers als an sich ,unzüchtig‘ zu bezeichnen. Das ist ein offenbar verfehlter Ausgangspunkt. So wenig, wie der unverhüllte männliche oder weibliche Körper selbst, so wenig hat dessen bildliche Darstellung an sich etwas mit Zucht oder Unzucht zu tun.

Es müssen besondere Umstände hinzutreten, um dasjenige, was zunächst nur die natürliche Erscheinung des natürlichen Menschen ist, zu einer unsittlichen oder schamlosen Erscheinung umzuwandeln. Solche Umstände können z. B. in sinnfällig hervortretenden geschlechtlichen Beziehungen oder in der gegen das Sittengesetz verstoßenden Art der Ausstellung bezw. Zurschaustellung gefunden werden.

Bei bildlichen Darstellungen des nackten menschlichen Körpers fällt ferner der ästhetische Gesichtspunkt ins Gewicht.

Die bildenden Künste haben von jeher den nackten menschlichen Körper nur seiner sinnlichen Schönheit wegen, oder auch Vorgänge geschlechtlichen Charakters um ihrer selbst willen dargestellt. Daß die Anschauung derartiger Bildwerke die herrschenden Gesetze von Sitte, Zucht und Anstand nicht ohne weiteres verletzt, beweist die offenkundige Tatsache der öffentlichen Ausstellung derselben in staatlichen Museen und sonstigen jedermann zugänglichen Sammlungen. Man ist allerwärts der Überzeugung, daß die Kunst imstande ist, auch Gegenstände der eben berührten Art künstlerisch bis zu dem Grade zu durchgeistigt und zu verklären, daß für das natürliche ästhetische Gefühl die sinnliche Empfindung durch die interesselose Freude am Schönen zurückgedrängt wird. Hier entschied also allein der Grad künstlerischer Vollendung, welche die bildliche Darstellung erreicht hat. Und die künstlerische Form muß auch für die Beurteilung der Nachbildungen entscheidend sein. Bewahrt die Kopie im wesentlichen den Charakter des Originals, so liegt kein Grund vor, sie unter anderem Gesichtswinkel anzuschauen. Hat die Nachbildung den ursprünglichen Charakter des Urbildes nicht zu wahren verstanden, tritt in