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     Damals jedoch heckte keine im roten Berg. Fritz Nickels Amsel durfte den Ruhm für sich in Anspruch nehmen, die allereinzigste ihrer Art in der Bergstadt Grünewies zu sein. Aber der Alte schätzte sie durchaus nicht nur wegen dieses Unikumhaften an ihr. Ihr Gesang hatte es ihm angetan. Vielleicht rührte die leise Schwermut, die so als Unterton im Amsellied mitschwingt, an gleichgestimmte Saiten seines Herzens. Denn etwas davon schwamm blau und träumend und als unverleugbares Stück seiner Seele über Fritz Nickels Augen. Vielleicht auch, daß es die Freude an der melodiösen Fülle war, die den Gesang gerade seiner Amsel auszeichnete. Auf der weiten Welt sang keine Amsel so schön wie seine. Der Bergmann Bruns hätte ihm seine ganze Kanarienhecke, die doch berühmt war bis nach Amerika hinüber, dafür bieten können, der Nickels Fritz hätte den Tausch nicht gemacht, wahrhaftigen Gott.

     Und das, was die anderen in ihren Stuben hängen hatten, Zeisige, Stiegliße, Hänflinge, Dompfaffen, Zwunschen, Grünitzer und so, das sah er erst recht nicht für voll an. Konnten diese Waldzigeuner singen? – Geträtsch war das, lauter loses Vigilantentum. Und dem Kaufmann Störmer seine Nachtigall? Freilich, das hörte sich schon nach was an. Viel mehr als Kunststückmacherei allerdings kam letzten Endes nicht dabei heraus. Aber seine Amsel, – hach, wenn die sang!

     Das war nicht bloß so Hingezwitschertes oder virtuos Hingeträllertes. Da spielte ein Herz auf goldener Flöte. Eine Seele psalmodierte. Da hing was in der Luft wie etwas unendlich Verträumtes und Sehnsüchtiges. Das schwamm über den Dächern. Das strömte warm in die Gasse hernieder, und die Leute, die vorübergingen, blieben stehen und horchten hinauf nach der Giebelkammer oben, wo ein großes Heckbauer halb aus dem Fenster herausragte und hinter den Käfigstäben zuweilen ein gelber Amselschnabel zu sehen war. Fritz Nickel, der von der Stube oder von der Bank vor der Haustür aus dies Stehenbleiben der Leute bemerkte, bekam dabei das Blänkern in die Augen. Jawohl, seine Amsel war das. So eine Prachtamsel gab es so leicht nicht zum zweiten mal. –

     Das ging nun schon ins vierzehnte Jahr, daß ihm die Amsel gehörte. Da wollte eines Morgens dem Nickel-Fritz beim Futtereinschütten nicht das gewohnte Kosewort über die Lippen. Ein Gespenst hockte in der Kammer. Er sagte nur: Armes Vugele! Aus Leid und Beklemmung kam das heraus. Sein Extrahappen heute. Das erstemal seit 14 Jahren. Und es wird wohl nun für immer damit vorbei sein. Woher soll ich Rinderherz nehmen oder nur einen Schnabel voll Rindergehacktes? Ach, der Schandarm paßt auf. Und hartgekochtes Ei? Für die Hamsterwege ins Land hinunter taugen die alten Beine nicht mehr. Und Mehlwürmer, du lieber Gott, wer weiß, ob die nicht bald selbst verhungern, wo das Mehl so rar ist. Es sind schlechte Zeiten, Krieg, Not, Teuerung, Brotmarken, Fleischmarken...

     Das alles war dem Alten fraus durch den Kopf gegangen, als er da vor dem Amselkäfig stand und seiner Amsel nichts weiter als eine Handvoll magerer und verschrumpelter Quitschen in den Futternapf tun konnte. Daß es ihm selber miserabel ging, daran dachte er mit keinem Gedanken. Alle grauen Fragen um die Wirrnis der Zeit sprangen qualvoll nur immer in das Vogelbauer hinein. Aus den Amselaugen fragten sie traurig zurück, suchten unbehilflich nach Antwort und Ausweg und wußten doch weiter nichts zu sagen, als dies bedrüdte: Armes Vugele!

     Woche um Woche ging das nun so. Der Alte schleppte etwas mit sich herum, das er nicht loszuwerden vermochte. Nicht einmal einen Vogel konnte man sattkriegen. Was für gottsjämmerliche Zeiten waren das!

     Da brachte der Briefträger einen Brief aus Hannover. Der Sohn schrieb: In der Großstadt sehe es zwar auch nur betrüblich aus. Immerhin, etwas mehr sei vielleicht vorhanden als in dem verhungerten Oberharz, wo nur Tannäppel und Gras wüchsen und man nie recht wüßte, ob die Kartoffeln reif werden würden Weißt Du was, so schrieb der Sohn weiter, komm zu mir. Laß uns unsere Brotmarken und Fleischmarken und den ganzen verfluchten Bettel zusammenschmeißen. Dann helfen wir uns durch.

     Vielleicht auch meine Amsel! sprang es wie ein Strahl aufatmender Hoffnung aus Fritz Nickels Brillengläser heraus, als er den Brief wieder in den Umschlag schob.

     Er packte sein köfferchen. Viel war da nicht zu schleppen. Die Amsel wurde in einen handlichen Käfig gesteckt. Die Zigarrenkiste mit dem kümmerlichen Rest einer Mehlwurmzucht beschwerte das Gepäck nicht allzusehr, und so begab sich der Alte auf die Fahrt. – Aber auch in der Großstadt ging die Not um. Sie stellte sich zu Schlangen an nach kärglich bemessenen Rationen. Sie stand auf allen Gesichtern zu lesen. Sie hockte in allen Gassen. Sie hockte aufgeplustert in dem kleinen Amselkäfig.

     Wiederum lehnte Zimmermann Nickel davor mit umwölkter Stirn. Die Hoffnung auf die Großstadt also hatte sich als betrüblicher Fehlschlag erwiesen. Nun war es so weit. Langsam mußte seine Amsel verhungern. Ja, wenn man Geld hätte und schieben und hamstern könnte. Aber so ein Hüttenmannsinvalide, was kann der groß anfangen.

     Fritz Nickel trug die Trübsal grauer Sorgenwochen und die Bedrängnis eines verzweifelten Konfliktes in den Stadtwald hinaus. Es war ein sonniger Vorfrühling und rings flöteten die Amseln. Der Alte blieb stehen und lauschte. Sehet die Vögel unter dem Himmel an, – fiels ihm ein. Ach ja, für die Amseln hier draußen sorgte der liebe Gott. Der kennt keine


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender 1940. Piepersche Buchdruckerei, Clausthal 1939, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Harz-Berg-Kalender_1940_059.png&oldid=- (Version vom 15.1.2019)