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     „Dein Arzt, mein Freund; ich weiß, er hat sich nicht getäuscht.“

     „Leben! O mein Gott! Leben! – Für mein Kind, für dich!“ – Es war, als käme ihr plötzlich eine Erinnerung; sie schlang die Hände um der Hals ihres Mannes und drückte sein Ohr an ihren Mund. „Und für deine – für eure, unsere Nesi!“ flüsterte sie. Dann ließ sie seinen Nacken los, und seine beiden Hände ergreifend, sprach sie zu ihm sanft und liebevoll. „Mir ist so leicht!“ sagte sie. „Ich weiß gar nicht mehr, warum alles so schwer gewesen ist!“ Und ihm zunickend: „Du sollst nun sehen, Rudolf, nun kommt die gute Zeit! Aber“ – und sie hob den Kopf und brachte ihre Augen ganz dicht an die seinen – „ich muß Teil haben an deiner Vergangenheit, dein ganzes Glück mußt du mir erzählen! Und, Rudolf, ihr süßes Bild soll in dem Zimmer hängen, das uns gemeinschaftlich gehört; sie muß dabei sein, wenn du mir erzählst!“

     Er sah sie an wie ein Seliger.

     „Ja, Ines, sie soll dabei sein!“

     „Und Nesi! Ich erzähl ihr wieder von ihrer Mutter, was ich von dir gehört habe; – was für ihr Alter paßt, Rudolf, nur das –“

     Er konnte nur stumm noch nicken.

     „Wo ist Nesi?“ fragte sie dann; „ich will ihr noch einen Gutenacht-Kuß geben!“

     „Sie schläft, Ines,“ sagte er, und strich sanft mit der Hand über ihre Stirn. „Es ist ja Mitternacht!“

     „Mitternacht! So mußt auch du nun schlafen! Ich aber – lache mich nicht aus. Rudolf – mich hungert; ich muß essen! Und dann, nachher die Wiege vor mein Bett; ganz nahe, Rudolf! Dann schlaf’ auch ich wieder; ich fühls; gewiß, du kannst ganz ruhig wieder fortgehen.“

     Er blieb noch.

     „Ich muß erst eine Freude haben!“ sagte er.

     „Eine Freude?“

     „Ja, Ines, eine ganz neue; ich will dich essen sehen!“

     „O du!“

      Und als ihm auch das geworden, trug er mit der Wärterin die Wiege vor das Bett.

     „Und nun, gute Nacht! Mir ist, als sollte ich noch einmal in unseren Hochzeitstag hinein schlafen.“

     Sie aber wies glücklich lächelnd auf ihr Kind.

     Und bald war alles still. Aber nicht der schwarze Totenbaum streckte seine Zweige über das Dach des Hauses; aus fernen, goldenen Ährenfeldern nickte sanft der rote Mohn des Schlummers. Noch eine reiche Ernte stand bevor.

     Und es war wieder Rosenzeit. – Auf dem breiten Steige des großen Gartens hielt ein lustiges Gefährt. Nero war augenscheinlich avanciert, denn nicht vor einem Puppen-, sondern vor einem wirklichen Kinderwagen stand er angeschirrt und hielt geduldig still, als Nesi an seinem mächtigen Kopf die letzte Schnalle zuzog. Die alte Anne beugte sich zu dem Schirm des Wägelchens und zupfte an den Kissen, in denen das noch namenlose Töchterchen des Hauses mit großen, offenen Augen lag; aber schon rief Nesi: „Hü, hott, alter Nero!“ und in würdevollem Schritt setzte sich die kleine Karawane zu ihrer täglichen Spazierfahrt in Bewegung.

     Rudolf und mit ihm Ines, die schöner als je an seinem Arme hing, hatten lächelnd zugeschaut; nun gingen sie ihren eigenen Weg; seitwärts schlugen sie sich durch die Büsche entlang der Gartenmauer, und bald standen sie vor der noch immer verschlossenen Pforte. Das Gesträuch hing nicht wie sonst herab; ein Gestell war untergebaut; so daß man wie durch einen schattigen Laubengang hinangelangte. Einen Augenblick horchten sie auf den vielstimmigen Gesang der Vögel, die drüben in der noch ungestörten Einsamkeit ihr Wesen trieben. Dann aber, von Ines’ kleinen, kräftigen Händen bezwungen, drehte sich der Schlüssel und kreischend sprang der Riegel zurück. Drinnen hörten sie die Vögel aufrauschen, und dann war alles still. Um eine Hand breit stand die Pforte offen; aber sie war an der Binnenseite von blühendem Geranke überstrickt; Ines wandte alle ihre Kräfte an, es knisterte und knickte auch dahinter; aber die Pforte blieb gefangen.

     „Du mußt!“ sagte sie endlich, indem sie lächelnd und erschöpft zu ihrem Mann emporblickte.

     Die Männerhand erzwang den vollen Eingang; dann legte Rudolf das zerrissene Gesträuch sorgsam nach beiden Seiten zurück.

     Vor ihnen schimmerte jetzt in hellem Sonnenlicht der Kiesweg; aber leise, als sei es noch in jener Mondnacht, gingen sie zwischen den tiefgrünen Koniferen auf ihm hin, vorbei an den Zentifolien, die mit Hunderten von Rosen aus dem wuchernden Kraut hervorleuchteten, und am Ende des Steiges unter das verfallene Rohrdach, vor welchem jetzt die Klematis den ganzen Gartenstuhl besponnen hatte. Drinnen hatte, wie im vorigen Sommer, die Schwalbe ihr Net gebaut; furchtlos flog sie über ihnen aus und ein.