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Der stille See.
Von Adolf Ey.


     Es war einmal ein Bergmann, der mußte um Mitternacht anfahren. Es war in der Walpurgisnacht, in der Nacht auf den 1. Mai. Als er über die Wiesen am Steinbruch vorbei war, kam er in den Wald, in welchem der Stille See liegt. Die Nacht war sternenhell, aber unter den hohen Tannen war es stockdunkel. Er ging still für sich hin, stolperte auch ab und an einmal über eine Wurzel und merkte dann, daß er vom harten Wege abgekommen war. Plötzlich schien es ihm, als sähe er etwas Weißes in der Finsternis; da fing es ihn an zu gruseln, und er betete, was ihm eben einfiel. Dabei konnte er es aber nicht lassen und ging immer auf das Weiße zu, und als er ganz nahe kam, stand es auf einer kleinen Lichtung und war ein weißes Reh. Seine Lichter konnte er deutlich leuchten sehen; die sahen ihn an, als wollten sie sagen: Komm, folge mir! Das weiße Reh schritt langsam voran dem Stillen See zu, und der Bergmann mußte hinterher, mochte er wollen oder nicht. Als das Reh am Ufer des Sees angekommen war, ging es mitten in das Wasser hinein. Es war aber kein Wasser, sondern ein trockener, schön mit Kies bestreuter Weg, der zu einer Kirche führte, die sich langsam aus dem Wasser erhob. In dem Augenblick schlug es in Bergheim zwölf. Da singen die Glocken in dem spitzen, spinnenwebefeinen Kirchturm da oben an zu läuten, die Orgel dröhnte, und Menschen in schönem Sonntagszeug standen in dem weiten Raum, der von Kronenleuchtern erhellt und mit herrlichen Bildern geschmückt war. Es war eine Pracht, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er stand und starrte. Das Reh sah ihn an mit seinen braunen Augen, als ob es ihn bitten wollte, doch ein Wort zu sagen. Aber welches? Er sann und sann, konnte aber keins finden, und dann stach ihn der Reichtum, den er sah, zu sehr in die Augen. Immer trauriger ward der blick des schönen Tieres, und da schlug es in Bergheim eins. Der Bergmann stand an dem Ufer des stillen Sees. Wohl spiegelten sich die Sterne in dem dunklen Wasser, aber das Reh, die Kirche, die Kronleuchter, die Bilder, die Orgel, die Glocken – nichts war mehr da. Er rieb sich die Augen. Die Tannen rauschten, der See plätscherte leise, und wie ein Trunkener wankte er ins Tal nach seiner Grube. Als er es dort erzählte, glaubten die Kameraden, er sei verrückt; doch ein alter Geleuchtausgeber wußte besser Bescheid: „Weshalb hast du das richtige Wort nicht gesprochen?“ sagte er. „Dann war all die Herrlichkeit dein.“ Da tat es dem Bergmann sehr leid, daß er geschwiegen hatte.

     So erzählte meine Großmutter, und ich fragte: „Wie heißt denn das Wort?“ „Daß weiß keiner,“ antwortete sie, „aber wenn man nur spricht, dann trifft es sich von selber.“ „Und weshalb war denn das Reh so traurig?” „Das war ja gar kein Reh, sondern eine verwunschene Prinzessin, die dann entzaubert wäre, und er wäre dann reich geworden, so reich! Doch nun geh’ mein Junge! Für heute ist’s genug.“

     Eigentlich hatte ich nie genug. Nichts war mir lieber, als wenn ich oben in der niederen Stube bei dem mit schwarzem Leder überzogenen Lehnstuhl der Großmutter auf einer Fußbank sitzen und ihren Märchen und Sagen lauschen konnte. Es war eine kleine, alte, etwas verhutzelte Frau in großer, weißer Nachtmütze und sauberem beiderwandenem Hauskleid. Sie trug eine große Brille, und, was mir damals gar nicht auffiel, sie rauschte jeden Morgen aus einer kurzen Pfeife. Das Päckchen leichter Varinaskanaster kostete nur wenige Pfennige: sie glaubte, es sei gut für die Augen. Jede Woche mußte ich ihr ein Paket vom „Glückauf“ holen.

     Was für Geschichten hatte sie mir schon erzählt, und während in den blauen Wölkchen ihrer Pfeife folgte, schien es mir, als ob diese die Gestalt der Waldwesen annähmen, die sie mir vorzauberte, und die langsam durch die Stube um den großen Ofen und die alte Wanduhr herumschwebten.

     Ich war erst sieben Jahre alt und glaubte fest an ihre Märchenwelt. Mir ist, als ob sie selbst daran geglaubt habe: wenigstens sagte sie nie, daß es keine Moosweibchen, keinen Bergmönch, keinen Hübich gebe; sie sprach immer ganz ernst. Meinen Eltern war es nicht recht, daß mir der Kopf so wirr gemacht wurde; sie nannten mich so schon einen Träumer, und, da ich immer alles verbaselte, kriegte ich oft Prügel. Wenn ich zum Kaufmann geschickt wurde, kam ich zwei- bis dreimal zurück weil ich die Bestellung vergessen hatte, und zuletzt rettete ich mich gewöhnlich dadurch, daß ich sie wie ein Gedicht mir immer hersagte bis zum Tresen; Doch nur zu häufig war es auch dann verkehrt. Gut war ich nur beim Spielen im Garten, auf dem Heuboden, auf der Wiese, im Walde, auf der Ruschelbahn, da gab es keinen Umsichteren, Unternehmenderen als mich. Furcht kannte ich ebensowenig wie Müdigkeit. Da die Eltern viel zu tun hatten, der Vater in der Grube, die Mutter im Stalle bei den Kühen, im Garten, auf der Wiese, so konnte ich viel umherlaufen und war mir meist selbst überlassen. Was die Großmutter erzählte, spukte mir im Kopfe, und hinter jedem Busche, in jeder Schlucht, im wallenden Nebel, überall vermutete


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Allgemeiner Harz-Berg-Kalender für das Schaltjahr 1924. Piepersche Buchdruckerei, Clausthal 1923, Seite 33. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Harz-Berg-Kalender_1924_034.png&oldid=- (Version vom 11.4.2019)