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alle standen, dorthin eilte sie mit Fliegendem Pulse, wo Berge von Felsblöcken lagen.

     Wenz stand schon an der Unglücksstätte, in seinen Augen glänzte eine Träne, als er der Tiefgebeugten ansichtig wurde; mit raschen Schritten eilte er ihr entgegen, stumm ihr die Hand zum Gruß bietend. Die Ärmste brach in lautes Schluchzen aus, dann rangen sich stoßweise die Worte aus dem gepreßten Herzen los: „Wenz, ich bin dem lieben Gott aus dem Weg gegangen, als er mich mahnen ließ durch Euch, Barmherzigkeit zu üben, wie man sie einst an mir geübt hat, – und nun hat sein Gericht mich ereilt – o hätte ich mein Ohr nicht verschlossen vor Euren und meines Sohnes Bitten, dann läge er nicht unter den Erschlagenen!“

     „Wenn ich Euch jetzt trösten wollte, Helmbrechtin, es würde wenig Nutzen haben, wenig frommen, ich selbst bedarf des Trostes. Denn als mich der Christian in sein Vertrauen zog und mir sagte, daß er das Geld erarbeiten wolle, das Ihr dem Hendricks versagt, und damit niemand ahne, daß es von ihm komme, solle ich es Johannes überbringen, da war ich sehr fröhlich darüber und lobte Euren braven Jungen darum, und nun bin ich irre geworden an dem lieben Gott, ich finde mich diesmal nicht in seine Wege, sie sind mir verborgen.“

     „O, ich verstehe sie, es ist meine Strafe, die ich leiden muß,“ jammerte die Unglückliche.

     „Dann vergeßt aber auch nicht, daß der Herr gnädig ist,“ mahnte Wenz, und daß er mächtig genug ist, zu erretten, verzaget nicht, rufet ihn an, denn seine Hand reicht in die Tiefen der Erde! – Seht dort Lene Hendricks und ihren Sohn, sie kommen, um mit Euch zu weinen, ich erzählte ihnen soeben, daß Christian um ihretwillen in die Steinbrüche ging.“

     Und da standen die Genannten auch schon, man reichte sich die Hände und sah sich tief in die Augen und erkannte sich wieder und fand sich für immer. Lene Hendricks saß mit Anna wie in den Tagen der Kindheit eng geschmiegt zusammen und sprach leise tröstend ihr zu, während Johannes mit den Steinbrechern, die in anderen Brüchen arbeiteten und welche sämtlich verschont geblieben, mit einem wahren Heldenmut arbeitete, um die Verschütteten zu retten. Die Braven, sie scheuen keine Gefahr, mit festem Mute geht es vorwärts, immer tiefer in den Abgrund, das Gestein knirscht über und unter ihnen, jeden Augenblick droht ihnen Gefahr, verschüttet zu werden, aber sie achten es nicht, allen voran ist Johannes, er hat noch nicht gerastet, vorwärts, vorwärts!

     So naht der dritte Tag, und mit ihm schwindet alle Hoffnung, daß das Rettungswerk gelänge, denn die Steinmassen waren zu gewaltig, und die darunter seufzten, mußten aus Mangel an Nahrung unterliegen, alle Anstrengung ist vergebens.

     Frau Helmbrecht sitzt immer noch auf derselben Stelle, von der Freundin gestützt, ein Schatten von dem, was sie einst gewesen, eine Beute des Kummers; ihre Angst, ihr Jammer hat eine Höhe erreicht, der für alles, was um sie her vorgeht, empfindungslos macht.

     Johannes steht das Fruchtlose ihrer Bemühungen ein, auch er will rasten mit den übrigen, denn das Blut quoll ihm unter den Nägeln hervor, da fällt sein Blick auf die unglückliche Mutter: „Wer wagt es mit mir?“ – ruft er „Vorwärts in Gottes Namen!“ – Und vier beherzte Männer schließen sich ihm an, er an der Spitze steigen sie in den engen, gewundenen Schacht in die grausige Tiefe.

     Horch! – Es stockt der Fuß, Gesang, – in den Klüften der Erde? – Sie singen ihr Grablied! – „Sie leben! Sie leben!“ schallt es hinauf, es pflanzt sich der Ruf fort, von einem zum andern, und hundert sprechen ihn nach: „Sie leben!“

     „Anna, sie leben!“ ruft Lene Hendricks der Freundin zu. Ein irres, banges Lächeln gleitet über das gramdurchfurchte Gesicht – lebt auch er? Diese Frage bebt von ihren bleichen Lippen; ach ihr Herz hatte keine Hoffnung mehr, – es fürchtet nur.

     Und wieder vergingen Stunden qualvollster Art, hundert Hände regen sich, und wieder wird’s Nacht, bei dem flackernden Schein der Pechfackeln setzt man die Arbeit fort, es gibt keine Ruhe für die Treuen, bis die Rettung vollbracht ist.

     Von Fieberfrösten geschüttelt, kauert Frau Helmbrecht auf kaltem Gestein, ihre Augen brennen, sie bohren sich förmlich in die Stelle ein, wo die Spaten klingend niederfallen, und jeder Streich trifft ihr Herz, – ihr bisher so hartes, kaltes, stolzes, liebeleeres und undankbares Herz. Ja, es bedurfte eines Gewaltmittels, um sie aufzurütteln aus ihrer Selbstgerechtigkeit und ihrem Hochmut, und die Rute, die am wehesten tut, damit wurde sie geschlagen, die wählte die himmlische Weisheit. Sie sah sich jetzt in ihrer eigensten Gestalt, jeder Flitter war abgefallen; was war ihre Frömmigkeit? – nur Schein, ohne Wesen. – Ihre Almosen, ihre Opfer, die sie mit vollen Händen spendete, sie gab sie, um gepriesen zu werden. Allen Segen, den der reiche Gott ihr schenkte, sie hatte ihm noch nicht einmal in Demut dafür gedankt, – sie sah