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Chronik 1915.


     Die vorjährige Chronik schloß mit dem Wunsche, daß wir nach einem Jahre nach endgültigem Siege über den Rest des Krieges berichten dürften. Es entsprach dieser Wunsch durchaus der allgemeinen Erwartung. Wenn man im September 1914 die Vermutung aussprach, im Westen würden wir wohl bis Weihnachten und im Osten bis Ostern fertig, so wurde man als Pessimist angesehen, als einer, der die Sage denn doch gar zu schwarz ansehe. Und jetzt? – Zwölf furchtbare Kriegsmonate haben wir seitdem erlebt, und das Ende des Krieges will scheinbar immer noch nicht kommen, ein zweiter Winterfeldzug hat begonnen, und wer weiß, was noch alles kommen mag!

     Aber nur Geduld, der Sieg ist unser! In dieser Hinsicht täuschen wir uns nicht. Unsere Überlegenheit tritt immer mehr zu Tage. Ungeheures ist schon von unseren Feldgrauen geleistet, unserer Flotte, der man früher ein schnelles Ende vorausgesagt hatte, fügt England ganz gewaltigen Schaden zu, auch auf dem Luftwege naht England eine stets wachsende Gefahr.

     Deutschland ist zwar von der Welt so ziemlich abgeschnitten, aber der teuflische Aushungerungsplan unserer Feinde ist gründlich zu schanden geworden. Auf welche Weise hoffen sie also eigentlich noch, uns auf die Kniee zu zwingen? Wir sind eben nicht zu besiegen; sie haben uns mächtig unterschätzt, sie wußten nicht, was es heißt, das friedliche Deutschland zu überfallen. Deutschland bezwingen wollen heißt, das sehen sie mehr und mehr ein, nichts anderes, als fast die ganze Menschheit gegen einander zu heben und doch keinen Vorteil zu erringen, sondern im Gegenteil, sich selbst ins Verderben zu stürzen!

     Täglich fragen wir uns: Wie konnte nur unter Europas Kulturvölkern ein derartiger Weltkrieg entbrennen? Wie war es England möglich, so viele Feinde gegen uns aufzubringen? Nun, bis die Archive in London, Paris, Petersburg, Rom und sonstwo geöffnet werden, wird wohl noch ein ganzes Jahrhundert vergehen, und alle, die jetzt leben, werden niemals einen genauen Einblick in all die einzelnen Vorgänge gewinnen, die den Krieg eingeleitet haben, aber im allgemeinen sind die Ursachen und treibenden Kräfte schon heute aufzuzeigen. Zum Teil ist davon schon in der vorigen Chronik die Rede gewesen.

     Das deutsche Reich ist bekanntlich am 18. Januar 1871 mit der Kaiserproklamation zu Versailles gegründet worden. Bismarck hat dies große Werk trotz der gewaltigsten Hemmnisse fertiggebracht. Schon dieses Ereignis wurde von unsern heutigen Feinden mit Unbehagen aufgenommen. Ein englischer Abgeordneter erklärte schon mehrere Jahre vorher, Deutschland sei ein Riesenkind in der Wiege. Indessen war Deutschland vor 45 Jahren der englischen Seeherrschaft noch nicht gefährlich. Deutschlands Beziehungen zum Auslande waren gering, es besaß ja nicht einmal eine Flotte. Allmählich mußte aber Deutschland bei seiner schnell wachsenden Bevölkerung immer mehr Getreide und sonstige Lebensmittel einführen.

     Um nun nicht zu verarmen, mußte unsere Industrie einen Teil ihrer Waren ans Ausland verkaufen, wir traten also als Verkäufer auf dem Weltmarkte auf; und siehe, unsere Ware war gut und fand guten Absatz; das machte England erst recht stutzig, bis dahin hatte der englische Kaufmann seine Ware, ob gut oder schlecht, zu hohen Preisen an den Mann bringen können; seine krankhaften Anstrengungen, den gefährlichen Gegner wieder vom Weltmarkte zu verdringen, waren umsonst. Zwar nahm die englische Ein- und Ausfuhr noch sehr zu, aber die deutsche Aus- und Einfuhr nahm noch schneller zu. Ein blühender Außenhandel aber kann nur bestehen, wo er von einer starken Flotte geschützt wird. Es ist das größte Verdienst unseres Kaiser, diese Wahrheit in aller Schärfe erkannt und danach gehandelt zu haben. Er hat in diesem Punkte weiter gesehen als sein Volk und auch als die politisch so gut geschulten Engländer. Er wußte, was er tat, als er bald nach seiner Thronbesteigung Helgoland – heute unser mächtiges Bollwerk zum Schutze der deutschen Küste – unter Hohn und Spott vom Freund und Feind erwarb. Viele Jahre hernach fand er dann endlich in Tirpitz einen Mann, der einen großzügigen Flottenbauplan nicht nur aufstellte, sondern auch durchführte. Seit dieser Zeit nun (Jahrhundertwende) treibt Deutschland wirkliche Weltpolitik. Zwar konnte Deutschland nicht gleich so selbstsicher auf der Weltbühne auftreten, wie es die Art Bismarcks gewesen war, und oft hat man über den Zickzackkurs unserer Politik geklagt. Mögen jedoch auch Fehler gemacht sein – wo werden keine Fehler gemacht! – im großen und ganzen war die Politik unserer Regierung richtig. Wir mußten vor allen Dingen erst einmal wirtschaftlich erstarken, ganz abgesehen von der Mehrung unserer Kräfte zu Wasser und zu Lande, ehe wir jeder Vereinigung feindlicher Mächte Trotz bieten konnten. Denn nicht nur England war auf uns schlecht zu sprechen, das wußte auch Eduard VII, nur zu gut; er wußte, wie leicht die Rachegelüste für 1870/71 in Frankreich zu hellen Flammen zu entfachen seien, und auch in Rußland wurde die Stimmung gegen uns immer feindseliger. Das Bewußtsein, industriell von Deutschland so sehr abhängig zu sein, erweckte bei den Russen keineswegs Dankbarkeit, sondern Ärger und Haß. Dazu kam dann noch die Balkanfrage. Rußland strebt schon seit 200 Jahren nach dem Besitz von Konstantinopel, um einen Weg zum Mittelmeer zu haben. Aber auch Österreich hat seine großen Interessen auf dem Balkan, so erklärten die Russen, der Weg nach Konstantinopel ginge über Wien – Weil nun aber Deutschland seinen Verbündeten nicht im Stiche lassen will und auch seine eigenen Interessen im vorderen Orient stets wuchsen, so wollen die Russen über Berlin nach Wien und Konstantinopel. Durch diese Verhältnisse sind die Interessen von Deutschland, Österreich und der Türkei innig untereinander verknüpft. Die von unseren Gegnern schon Jahrzehnte hindurch geplante Aufteilung der Türkei muß unter allen Umständen von uns verhindert werden. Die asiatische Türkei ist reich an Erzen und Petroleum, in ihr kann ferner reichlich Woll- und Baumwolle geerntet werden, so daß wir mit den für unserer Industrie so notwendigen Rohprodukten nicht mehr auf Amerikas und Englands Gnade angewiesen zu sein brauchen. Das ganze Gebiet von der Nordsee bis zum Persischen Golfe ist, wirtschaftlich geeinigt, für unsere Zukunft von allergrößter Bedeutung. Einsichtige Männer haben die Wichtigkeit der Türkei für uns schon lange erkannt, und auch die Türken merkten, daß wir ihre einzigen Freunde sind. So verdichteten sich denn unsere gegenseitigen Interessen zu einem Bündnis. Im Herbst 1914 waren die Türken glücklich so weit gerüstet, daß fie offen auf unsere Seite treten konnten.

     Hatten wir so einen tüchtigen Bundesgenossen gewonnen, so haben wir an einem vermeintlichen Freunde eine doppelt harte Enttäuschung erlebt. Daß Italiens Verhältnis zu uns nicht das beste war, wußten wir seit der Algeciraskonferenz vor 10 Jahren recht gut. Immerhin hat Italien noch 1912 den Dreibund mit erneuert. Da aber blieb dies Land beim Ausbruch des Krieges mit einem Male neutral, noch erbärmlicher aber zeigten sich diese Welschen, als sie Pfingsten 1915 an Österreich sogar den Krieg erklärten. Die Gründe, die sie dafür angaben, sind so nichtig, daß sie gar keine Beachtung verdienen. Die Italiener, die sich etwa zu