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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

weniger verlockend zu machen, teils um die seltener arbeitslos werdenden Arbeiter zu versöhnen. So kann das Handelsministerium mit Arbeitgebern, welche Arbeiter durch die Arbeitsnachweise bezogen haben, Vereinbarungen treffen, wonach alle ihre vom Gesetz auferlegten Obliegenheiten, wie Markenkleben usw. vom Nachweis übernommen werden; in diesem Falle zahlt dann der Arbeitgeber nur für die Arbeit, die ihm geleistet wird, nicht für die einzelnen Arbeiter; ein solcher Arbeitgeber, der 3 Wochen nach einander 3 Taglöhner je 2 Tage beschäftigt, zahlt nicht 3x2 = 6 pence, sondern, da die 3x2 Tage als eine Woche gerechnet werden, nur 2½ pence. Analog gelten für den Arbeiter, der durch den Arbeitsnachweis an einen oder mehrere Arbeitgeber vermittelt worden ist, alle diese einzelnen Beschäftigungsperioden als ununterbrochene Beschäftigungszeit bei einem Unternehmer. Wenn ein Arbeitgeber einen Arbeiter das ganze Jahr beschäftigt und für ihn wenigstens 45 Wochen – 7 Wochen Ausfall im Jahr für Krankheit etc. schaden also nichts – bezahlt hat, erhält er ⅓ seiner Beiträge zurückerstattet, und wenn er während einer wirtschaftlichen Depression durchgehends die Arbeitszeit herabsetzt, statt die Arbeiter alle oder teilweise zu entlassen, und während dieser Zeit seinen und seiner Arbeiter Anteil an den Versicherungsbeiträgen zahlt, kann er die gesamten Beiträge während der Depression vom Handelsamt zurückverlangen. Hat ein Arbeiter für wenigstens 500 Wochen Beiträge gezahlt, so kann er, sobald er 60 Jahre alt geworden ist, seine gesamten eigenen Einzahlungen zuzüglich von 2½% Zinsen und abzüglich etwa an ihn gezahlter Unterstützungen zurückerhalten; stirbt er in diesem Alter, so wird diese Summe seinen Erben ausgezahlt. – Insoweit bei den dem Versicherungszwang unterliegenden Industriezweigen Gewerkvereine bestehen, welche selbst Arbeitslosenunterstützung bezahlen, kann die Auszahlung bei diesen statt bei dem Arbeitsnachweis erfolgen. Der Staat trägt dann ¾ der gewerkschaftlichen Unterstützung, aber höchstens bis zu 7 sh. pro Woche. Bis Februar 1913 waren entsprechende Vereinbarungen mit 99 Organisationen getroffen. Insoweit es sich nicht um zwangsweise versicherte Industrien handelt, können die Arbeiterorganisationen staatlich eine Beihilfe bis zum Betrage von der von ihnen gezahlten wöchentlichen Unterstützungen erhalten, sofern diese nicht die Summe von 12 sh. pro Woche überschreiten. Die Summen hierfür werden, da sie ausserhalb der Zwangsversicherung liegen, besonders vom Parlament bewilligt. Bis Februar 1913 haben 274 Organisationen die Beihilfe erbeten. – Es muss abgewartet werden, wie dieser bedeutsame Gesetzesversuch sich bewährt. Eine völlige Hilfe bietet er sicher nicht; man nimmt an, dass die 15 wöchentliche Unterstützungszahlung die Dauer der Arbeitslosigkeit kaum zu 50% deckt.

In Deutschland hat man die Frage einer allgemeinen obligatorischen Arbeitslosenversicherung viel erörtert. Man wollte die Lösung finden in Anlehnung an die Krankenkasse (Tischendörfer), an die Berufsgenossenschaften der Unfallversicherung (Herkner, Buschmann), an die Berufsgenossenschaften und Arbeiterverbände (Zacher), an die Invalidenversicherung (Molkenbuhr), an erzwungene Arbeiterverbände (von Elm, Korrespondenzblatt der Gewerkschaften), an die paritätischen Arbeitsnachweise (Freund, Imle, Scheig), an die Gemeinden (Sonnemann, Baab); aber befriedigt hat keiner dieser Vorschläge. Eine ernstliche Inangriffnahme setzt eine geschlossene Organisation des Arbeitsnachweises voraus, die bis jetzt in Deutschland fehlt und selbst noch Gegenstand heftigen Interessenkampfes ist. Der Arbeitsnachweis würde im Zusammenhang mit einer obligatorischen Arbeitslosenversicherung eine Art Zwangsanstalt, die kaum Zufriedenheit schafft. Geht doch auch das englische Arbeitslosenversicherungsgesetz vom 16. Dezember 1911 bereits so weit, dass der Versicherungsbeamte des Arbeitsnachweises Versicherte, die häufig infolge mangelhafter Geschicklichkeit beschäftigungslos werden, zu einem geeigneten technischen Unterricht zwingen und ihnen, wenn sie, diesen ablehnen oder ohne Erfolg benutzen, den Unterstützungsanspruch entziehen kann.

Erwähnt sei noch, dass der deutsche Städtetag am 25. September 1911 in einer Eingabe an den Bundesrat eine obligatorische Versicherung, aber zunächst nur für die winterliche Arbeitslosigkeit der Bau-, Erd- und Gelegenheitsarbeiter, die immer die meiste Beunruhigung bereitet, verlangt hat.

Ein grosser Teil der arbeitslosen Zeit wird schon heute von den Arbeitern selbst überwunden im Weg der Sparrücklagen. Ende 1911 gab es in Deutschland 22,3 Mill. Sparkassenbücher, auf 3 Personen, also auf jede Familie mindestens eines; scheidet man die Kreise, welche für die Sparkassen nicht

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/74&oldid=- (Version vom 12.11.2021)