Seite:Handbuch der Politik Band 3.pdf/73

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Arbeitern, die nicht oder wenig arbeitslos wurden, weil sie für die Taglöhner und Bauarbeiter, die hauptsächlich das Kontingent der Arbeitslosen stellten, mitzahlen mussten. Auch waren viele Organisationsmängel vorhanden, namentlich der Arbeitsnachweis war so gut wie nicht ausgebaut, die Kontrolle ungenügend. Immerhin hatte auch die St. Gallener Arbeitslosenversicherung nur eine lokale Bedeutung.

Das grosse Problem, die Arbeitslosenversicherung durch ein ganzes Land obligatorisch durchzuführen, harrt noch der Lösung. Auch der Versuch, den jetzt England macht, ist ein partieller. Nach dem Gesetz vom 16. Dezember 1911, das am 15. Juli 1912 in Kraft getreten ist, erstreckt die Zwangsversicherung sich nur auf gewisse, besonders grossen Schwankungen unterliegende Gewerbe: es sind dies das gesamte Baugewerbe in allen seinen Zweigen einschliesslich Maler- und Tapeziererarbeiten, Reparaturen und Niederreissen von Häusern, ferner die Tiefbauindustrie, namentlich der Bau von Docks und Kanälen sowie Eisenbahnbauten, die Schiffbauindustrie, die Maschinenindustrie einschliesslich der Herstellung von Feuerwaffen, die Eisengiesserei und Sägeindustrie einschliesslich der maschinenmässigen Holzbearbeitung, die Wagenbauindustrie einschliesslich der Ausstattung und Reparatur von Wagen und Fahrzeugen aller Art. Die Zahl der unter das Gesetz fallenden Personen wurde auf 2,4 Mill. geschätzt, von denen nur etwa 14% durch Gewerkvereine gegen Arbeitslosigkeit versichert waren. Bis zum 1. Februar 1913 wurden an 2 297 326 Personen Versicherungsbücher ausgegeben; die durchschnittliche Arbeitslosigkeit der Versicherten betrug 5%. Die Unterstützungsgelder betragen 7 sh. pro Woche. Sollte die Arbeitslosigkeit geringer sein, als angenommen wurde, so kann das Handelsministerium die Unterstützung auf 8 sh. erhöhen, im andern Fall aber auch auf 6 sh. herabsetzen. Die Zahlung beginnt erst nach der ersten Woche der Arbeitslosigkeit und darf 15 Wochen im Jahre nicht überschreiten, auch ist der Anspruch beschränkt auf je eine Woche Unterstützung für 5 Wochen Beitragszahlung; doch erhalten 21 jährige Arbeiter, die vor Inkrafttreten des Gesetzes für gewöhnlich in einem versicherungspflichtigen Gewerbe gearbeitet hatten, zu ihren schon gezahlten Beiträgen 5 weitere für je 3 Beschäftigungsmonate bis zur Höchstgrenze von 25 Beiträgen zugerechnet. Der Arbeitslose ist nur unterstützungsberechtigt, wenn er mindestens 16 Jahre alt und mindestens 26 Kalenderwochen lang in den dem Eintritt der Arbeitslosigkeit vorangegangenen 5 Jahren beschäftigt war; auch muss der Arbeiter überwiegend körperlich tätig sein, Werkführer, Bureauarbeiter sind nicht einbezogen. Keine Unterstützung wird gezahlt, wenn die Arbeitslosigkeit durch einen Streik oder eine Aussperrung veranlasst wurde. Arbeitslose, welche ihre Arbeitsstelle infolge eigener Schuld verloren oder freiwillig verlassen haben, erhalten für 6 Wochen keine Unterstützung. Der Arbeitslose braucht keine Arbeitsstelle anzunehmen, welche ihm niedereren Lohn brächte, als er in seiner letzten Arbeitsstelle inne hatte, oder als der Lohnsatz der Gewerkvereine oder als in Ermangelung eines gewerkschaftlichen Lohnsatzes der bei billig denkenden Arbeitgebern des betreffenden Distrikts gezahlte Lohn beträgt. Die Wochenbeiträge machen 2⅔ pence bei versicherungspflichtigen Arbeitern unter 18 Jahren, ebenso wenn die Beschäftigung nicht mehr als einen Tag dauert, 5⅓ pence dagegen, wenn sie nicht mehr als 2 Tage, 6⅔ pence, wenn sie mehr als 2 Tage in der Woche dauert; hiervon trägt der Staat stets ⅓ (also ⅔, 1⅓ und 1⅔ pence), der Rest wird von Arbeiter und Arbeitgeber zu gleichen Teilen übernommen. Die Beiträge sind auf 2,75 Mill. £ jährlich veranschlagt, wovon 0,75 Mill. der Staat trägt. Beiträge und Leistungen werden alle 7 Jahre, die gewöhnlich eine Aufschwungs- und Depressionsperiode umfassen, auf Grund der Erfahrungen neu festgesetzt. Wird durch eine besonders heftige Geschäftsflauheit der durch Beiträge gebildete Arbeitslosen-Fonds zeitweilig erschöpft, so macht das Schatzamt die notwendigen Vorschüsse, kann aber später verlangen, dass die Beitragsraten bezw. die Unterstützungen anders geregelt werden, bis der Fonds wieder aktiv wird. Die Versicherungspflichtigen erhalten von den bestehenden staatlichen Arbeitsnachweisen Arbeitsbücher, in welche die Marken eingeklebt werden; die Arbeitgeber dürfen Arbeiter ohne solche Bücher nicht annehmen. Wird ein Arbeiter beschäftigungslos, so hat er das Buch beim Arbeitsnachweis abzuliefern und sich täglich in ein Register einzutragen; dort wird auch die Entschädigung ausgezahlt. Irgendeine Selbstverwaltung ist ausgeschlossen.

Eine Reihe Vergünstigungen sind gewährt, teils um die Arbeitgeber zur stärkeren Benutzung der staatlich geschaffenen Arbeitsnachweise zu veranlassen, teils um die Entlassung von Arbeitern

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 57. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/73&oldid=- (Version vom 12.11.2021)