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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

dem Lohndruck wie er durch das allzudrängende Angebot der Arbeitslosen entsteht, zu begegnen und die Mitglieder fester an die Fachvereine zu ketten und nicht bloss solange, als es sich darum handelt, eine Lohnbewegung durchzuführen oder einen Angriff der Unternehmer abzuwehren. In Deutschland zahlten die freien Gewerkschaften 1909 Orts-, Reise- und Umzugsunterstützung 10,0 Mill. M., die Hirsch-Duncker’schen Gewerkvereine 0,375 Mill. M., die christlichen 0,195 Mill. M. Ein Vorzug der gewerkschaftlichen Arbeitslosenversicherung ist, dass ihre berufliche Gliederung von selbst ein ziemlich gleichartiges Risiko darstellt, also die Schwierigkeit der Abstufung in Wegfall bringt, ferner dass unter den Mitgliedern enge Fühlung besteht, was die Kontrolle erleichtert, sowie dass die zentrale Organisation mit ihren Unterstellen eine bedeutende Vereinfachung der Verwaltung in sich schliesst. Der Versicherungsbeitrag ist ein Lohnbestandteil, wie er es streng genommen sein soll; er tritt aber nicht gesondert auf, sondern liegt im Gesamtbetrag für die Organisation. Die Versicherung ist für die Mitglieder obligatorisch, aber der Beitritt zu einer Organisation ist freiwillig. Das Klassenbewusstsein und Klasseninteresse überbrückt hier manche Unebenheiten. Die Schwäche der gewerkschaftlichen Arbeitslosenversicherung liegt darin, dass nur die Minderheit der Arbeiterschaft organisiert ist und dass auch bei dieser der Arbeitsnachweis –wenigstens in Deutschland – nur sehr mangelhaft funktioniert.

Von Frankreich und Belgien aus setzte in den 1890er Jahren eine Bewegung ein, welche die gewerkschaftliche Arbeitslosenversicherung durch Subventionen zu fördern sucht. Staat, Provinzen und Gemeinden beteiligen sich. Dieser Vorgang hat auch in Holland, Luxemburg und Italien Nachahmung gefunden; in Norwegen hat ein Ges. v. 12. Juni 1906, bezw. 15. Aug. 1911, in Dänemark ein Ges. v. 9. April 1907 die Subvention geregelt; in Deutschland haben die Städte Strassburg (1907) und einige Nachbargemeinden, ferner Mühlhausen und Erlangen (1909), Freiburg i. B., Schöneberg (1910), Schwäbisch-Gmünd (1911), Stuttgart (1912), Kaiserslautern, Feuerbach, Esslingen, Mannheim, Offenbach a. M. (1913), in der Schweiz die Kantone Genf (Ges. v. 6. Nov. 1909), Basel-Stadt (Ges. v. 16. Dez. 1909). St. Gallen (1911), Appenzell (1912) das Subventionswesen eingeführt. Die Subvention wird an gewisse Bedingungen geknüpft, um Missbräuche hintanzuhalten, zuweilen getrennte Kassenverwaltung verlangt, in Dänemark – und auf demselben Boden steht ein finnländischer Entwurf von 1911 –ist die Arbeitslosenkasse ein vollständig selbständiges rechtliches Gebilde. Die Subvention fällt entweder der Kasse als solcher zu oder sie wird den Arbeitslosen selbst, wenn auch durch Vermittlung der Verbände, die die blossen Zahlstellen bilden, zugewendet. Ersteres ist der Fall in Norwegen, Dänemark, Luxemburg, Lüttich, Basel, das letztere in Gent und zahlreichen belgischen und holländischen Gemeinden, in Genf, Strassburg, Mühlhausen, Erlangen, Freiburg. Der letztere Weg hat dazu beigegetragen, dass man di Bedenken leichter fallen liess, die man gegen die Subventionierung der Organisationen hatte, aber es wird diese Lokalisierung da, wo nationale Arbeiterorganisationen bestehen, bereits lästig empfunden und als zu bürgerlich-individualistisch bekämpft; die Unterstützung des einzelnen Arbeitslosen hat nach dieser Ansicht zu sehr den Wohltätigkeitscharakter. Das erstere System lässt den Gewerkschaften etwas grössere Freiheit und macht es auch möglich, dass man die Subventionen gleichzeitig nach den Beiträgen und den Unterstützungen bemisst; das ist insofern vorteilhaft, als Berufsgruppen, welche in normaler Zeit sogut wie keine Arbeitslosigkeit haben, gleichwohl im Masse ihrer Beiträge Zuschüsse erhalten und dadurch sich rüsten können für die Zeit der Krisen. Das System der individuellen Unterstützung braucht wenig Mittel in normaler Zeit, aber sehr viel in Zeiten von Krisen, stellt auch seine Tätigkeit ein gegenüber Kassen, deren Mittel erschöpft sind. Hat man aber einen gesonderten Fonds, der mit einer gleichbleibenden Summe seitens einer öffentlichen Körperschaft gespeist wird, so kann man in normaler Zeit Erübrigungen machen für die Perioden, in denen mehr Unterstützungen notwendig sind. Dieses Verfahren liegt auch im Interesse der subventionierenden Körperschaften. Bedenklich ist es aber, wenn, wie es nach dem Lütticher System zu geschehen scheint, die Bemessung der Zuschüsse nach der Gesamtheit der gewerkschaftlichen Mitgliederbeiträge sich richtet, da darin Quoten stecken, welche gar nicht der Arbeitslosenversicherung dienen.

Das Zuschusssystem, das lediglich an die gewerkschaftliche Arbeitslosenversicherung anknüpft, legt überhaupt den Vorwurf nahe, dass man einseitig nur bestimmte Kategorien von

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 55. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/71&oldid=- (Version vom 12.11.2021)