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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Abgesehen von einigen männlichen Berufen, wie besonders dem Bauhandwerk, wo alte Gilden die Löhne regulierten, oder der Eisenindustrie, wo moderne Gewerkschaften eingriffen, ist die unorganisierte Arbeiterschaft, am meisten Frauen und Kinder, dem Machtgebot des Unternehmers ausgeliefert. Es finden sich Löhne für Mädchen unter 14 Jahren von 8–11 sen, von Knaben unter 14 Jahren 12–20 sen, für Frauen von 17–22 sen, für Männer von 29–50 sen in einer grossen Anzahl von gewerblichen Tätigkeiten.

Eine vegetarische Ernährung, die in der Hausindustrie üblich, von zwei Gelehrten Dr. Kellner und Mori als Unterernährung bezeichnet wurde, ist es noch mehr mit dem Eintritt der Arbeiter in die Fabrik geworden. Die Löhne vieler Männer reichen nicht zur vollkräftigen Ernährung der „dritten Speisengruppe“, die der Frauen und Kinder meist nicht zur kümmerlichsten vegetarischen Kost; die Fleischnahrung ist aber bei der sitzenden Tätigkeit in den Fabriken geradezu eine Notwendigkeit.

Diese Löhne können den Körper auf die Dauer nicht leistungsfähig erhalten, sondern müssen zur Kraftlosigkeit, hoher Krankheitsempfindlichkeit, Geburt schwacher Kinder und frühem Tod führen. In der Verzweiflung an ihrer Lage kam es dann wohl besonders in Bergwerken zu Streiks, wo bei die Sabotage nicht selten war – am schlimmsten war der Streikaufstand in den Kupferwerken von Ashio im Jahre 1907; aber die Arbeiter, die sich ins Unrecht setzten, wurden mit Waffengewalt niedergezwungen und hatten oft noch schlimmer zu dulden als zuvor.

Nachdem es entschieden war, dass die Kriegsauflagen, namentlich auch die vom niederen Volke schwer empfundenen auf Gewebe, Shoyu (die in jedem Haushalt unentbehrliche Sauce aus Sojabohnen) und Salz verewigt werden, setzte auch die sozialistische Agitation gegen die Verelendung der Massen wieder ein. Der Unterrichtsminister hielt es am 9. Juni 1906 geboten, die Jugend vor dem schädlichen Einfluss der neu aufgekommenen Lektüre über wirtschaftliche Fragen zu warnen und die Überwachung der Schülerlektüre anzuordnen. Sein Rundschreiben erläutert diese neue Erscheinung: „Seit einiger Zeit mehren sich die Veröffentlichungen, welche gefährliche Theorien, pessimistische Ansichten darlegen und verabscheuungswürdige Gefühle beschreiben; auch sehen wir, wie überall extrem-sozialistische Theorien verbreitet werden.“ Namentlich seit dem Rückgang der Konjunktur in der zweiten Hälfte des Jahres 1907 wurde die Kampfstimmung unter den Arbeitermassen immer allgemeiner. Im Februar 1908 bildete sich ein neuer „sozialistischer Verein“, der durch wahrheitsgemässe Darstellungen der traurigen Lage der ungeschulten Arbeiter Propaganda machte. Die Gefahr wurde, wie viele, oft leichtsinnige Streiks bewiesen, dadurch nicht vermindert, dass die Regierung die Bildung einer sozialdemokratischen Partei (Shakwai Heiminto) mit dem Programm, „die Prinzipien des Sozialismus innerhalb der durch die Verfassung gezogenen Grenzen zu vertreten und den arbeitenden Klassen zu ihren angeborenen Rechten zu verhelfen“ mit Gewalt vereitelte. Die Unterdrückung der Agitation hatte nur die Folge, dass die fanatischen Idealisten den Grundlagen des Staatswesens Totfeindschaft schwuren und dass im Juli 1910 sogar eine anarchistische Verschwörung gegen das Leben des Kaisers beinahe Erfolg gehabt hätte. Unter den 26 Verschworenen waren drei buddhistische Priester und unter den 12 am 24. Dezember 1910 Hingerichteten befand sich auch der seit Jahren über den Raubbau an der japanischen Volkskraft Material sammelnde Arzt Kotoku und seine Frau. Solch ein Vorkommnis ist, wie Rathgen mit Recht hervorhebt, „für den Kenner japanischer religiös-politischer Vorstellungen geradezu erschütternd“.

Brachte so die überhastete Industrialisierung Japans die Arbeiterfrage in den Vordergrund der inneren Politik, so verband sich mit einem anderen Mittel zur Hebung des Volkswohlstandes und Aufrechterhaltung der Zahlungsbilanz der neuen Grossmacht die Gefahr einer schweren auswärtigen Verwicklung. In den Aufstellungen des Finanzministers Sakatani spielten die Geldsendungen der Auswanderer eine bedeutende Rolle. Dementsprechend wurde es den Auswanderungsunternehmern (meist Gesellschaften) erleichtert, Menschenmaterial nach allen möglichen Ländern, besonders nach Nord- und Südamerika zu schaffen. Da durch ein Gesetz 1896 japanische Berg-, Fabrik-, Landwirtschafts- und Hausarbeiter zum Verlassen des Inselreichs einer behördlichen Erlaubnis bedürfen, so lässt sich die Zahl der ins Ausland gegangenen Japaner aus den Pässen, die von der Regierung ausgestellt sind, ziemlich genau berechnen. Sie erreichte ihr Maximum i. J. 1906,

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/400&oldid=- (Version vom 25.12.2021)