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innere Unsicherheit haben wieder in diesem Lande überhand genommen. Inwieweit dabei vorbereitend amerikanischer privater Einfluss beteiligt ist, dieses Gebiet in die Sphäre der Union hereinzuziehen, mag dahingestellt bleiben. Der neue demokratische Präsident Wilson wollte sich in die mexikanischen Angelegenheiten nicht einmischen, aber machte gleich die Erfahrung, dass die von ihm ausgesprochene unbedingte Rückkehr zu den Prinzipien George Washingtons in der auswärtigen Politik gar nicht mehr möglich ist. Die Ansprüche der Monroedoktrin, kraft deren jede europäische Einmischung in Mexiko abgewiesen wurde, legen den Vereinigten Staaten auch Pflichten auf. Und dass diese von der Monroedoktrin auch trotzdem nicht abgehen, lehrte genau zur selben Zeit der Vertragsentwurf mit Nikaragua, den der Staatssekretär Bryan dem Senat vorlegte. Die Demokraten warfen seinerzeit dem republikanischen Staatssekretär Knox seine „Dollar-Diplomatie“ vor, aber der Vertragsentwurf mit Nikaragua zur Sicherung für den Panamakanal ging noch erheblich über die republikanischen Ansprüche aus der Monroedoktrin hinaus. Denn er suchte Nikaragua in genau dieselbe Verbindung mit der Union zu bringen, in der heute Kuba mit ihr steht, d. h. in völlige Abhängigkeit. Man geht nun auch Mexiko gegenüber weiter vor; nicht nur die Fäden des Kapitals und des Verkehrs ziehen dieses Gebiet wie die kleineren Staaten Mittelamerikas immer stärker in die Netze der Union, und es ist nicht wahrscheinlich, dass diese Republiken ihre Selbständigkeit gegen die Union werden behaupten können.

Darüber hinaus steigert die von der Union beherrschte neue Hochstrasse des Weltverkehrs ihre Bedeutung sowohl im Problem des Stillen Ozeans wie für Südamerika. Die pazifische Stellung der Vereinigten Staaten rundet sich und schliesst sich damit ab. Die für das Jahr 1915 geplante Weltausstellung in San Franzisko wird das Europa und der Welt überhaupt ganz besonders deutlich machen, wie das ebenso jetzt schon gespürt wird in den fortwährenden Reibungen zwischen den Vereinigten Staaten und der anderen Grossmacht des Stillen Ozeans, Japan.

Mit dem Kanal rückt Südamerika dem Norden viel näher und damit wird der früher utopisch anmutende Gedanke, auch durch eine Eisenbahn den Süden mit der Mitte und dem Norden zu verbinden, bald völlig durchgeführt sein. Damit scheinen die Vereinigten Staaten auf dem besten Wege, die Vormacht (paramount power) in Südamerika zu werden. Freilich: wenn auch diese Bestrebungen friedlicher Eroberung von den nach Expansion verlangenden Schichten der Union energisch gefördert und durch Kongresse, Museen, Besichtigungsreisen, Sprachstudien usw. propagiert werden, grösser als in Mittelamerika sind die Schwierigkeiten doch, die sich hier der auswärtigen Politik der Vereinigten Staaten entgegentürmen. Weniger vielleicht gegenüber den europäischen Mächten, die ihren Kolonialbesitz dort nur mühsam behaupten und die auch in der Frage bewaffneter Intervention zu Gunsten ihrer Kapitalisten gegen säumige Schuldnerstaaten Südamerikas doch in der Hauptsache nachgegeben haben. (Sogenannte Calvo- und Drago-Doktrin, dass Schuldansprüche das bewaffnete Eingreifen fremder Mächte nicht rechtfertigen – eine politische Idee, die die Vereinigten Staaten ihrer sehr dehnbaren Monroedoktrin einverleibt haben.) Aber gegenüber den selbständigen Staaten des Südens, die, besonders Chile, Argentinien und Brasilien, mit ihren wirtschaftlichen Interessen nach dem näheren Europa gravitieren und in ihrer kirchlichen und Rassenart dem Norden durchaus entgegengesetzt sind. Vor allem haben ja die Vereinigten Staaten, wenn sie auch noch so sehr imstande sein sollten, durch Kapital und Handel die heute noch viel stärkeren europäischen Interessen zurückzudrängen, garnicht das Menschenmaterial, um diese ungeheuren Flächen sich irgendwie, dauernd zu sichern, und sie werden nach menschlicher Voraussicht dieses Menschenmaterial auch so bald nicht haben. Eine Auswanderung aus der Union nach dem Süden ist in absehbarer Zeit durchaus nicht zu erwarten.

Vom ganzen grossen Kontinent blieb danach ausserhalb dieses Programms und ausserhalb auch der Monroedoktrin wenigstens bis in die Gegenwart die grosse englische Kolonie, die im Befreiungskampf der 13 Kolonien dem Mutterlande übriggeblieben war: Kanada, das sich ungeheuer rasch, namentlich in seinem Nordwesten entwickelt hat und das dem amerikanischen Imperialismus das Banner des englischen Imperialismus entgegengestellt hat. Kanada füllt sich als ein Glied in diesem grossen Zukunftsprogramm Englands, als Lieferant der agrarischen Produkte auf englischem Markt bevorzugt zu werden und dafür die englische Industrieeinfuhr seinerseits zu bevorzugen. Begreiflicherweise haben die Vereinigten Staaten, seitdem in der sogenannten Oregonfrage

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/372&oldid=- (Version vom 20.12.2021)