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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Lage gelegentlich geraten worden ist, die vom alten Régime, nicht etwa von den Kurden selbst geraubten Ländereien einfach den augenblicklichen Besitzern wegnehmen und den früheren armenischen Eigentümern zurückgeben wollte. Eine Rückgabe der Ländereien ist nur bei angemessener Entschädigung der jetzigen kurdischen Besitzer möglich. Wenn es der Regierung gelingt, die erforderlichen Geldmittel zur Lösung der Länderfrage flüssig zu machen, wird die Herstellung von Ruhe und Ordnung in den Ostprovinzen rasch erfolgen können. Man hat festgestellt, dass 90 Prozent aller Mordtaten in den armenisch-kurdischen Provinzen auf die Zwistigkeiten wegen der Ländereien zurückzuführen sind. Übrigens leiden, wie Mahmud Schewket Pascha am 12. Mai 1913 nach der Überreichung eines Memorandums des armenischen Patriarchats über „die unbeschreibliche Verzweiflung der Armenier“ öffentlich erklärte, unter der in Ostanatolien herrschenden Anarchie Armenier und Kurden in gleicher Weise. In Europa hört man infolge der von Paris aus betriebenen geschickten Propaganda fast nur von den „Armeniermorden“ sprechen. Man darf aber nicht übersehen, dass auch mancher Kurde als Opfer armenischer Mörder fällt. Davon pflegt in Europa kein Aufheben gemacht zu werden. Nicht einmal die Ermordung des Kurdenchefs Musa Bej in Gardschikan hat gebührende Beachtung gefunden. Während des Krieges haben die armenischen Soldaten sich, wie Mahmud Schewket Pascha in der erwähnten Erklärung hervorhob, recht gut geschlagen. Aber die Zahl der zum Feinde übergegangenen Armenier war bedauerlich gross, und in den von bulgarischen Truppen besetzten Teilen Thraziens, besonders in Adrianopel und Rodosto, haben viele Armenier in hochverräterischer Weise mit den Feinden der Türkei paktiert.

In wirtschaftlicher Hinsicht hat die Türkei den Krieg über Erwarten gut überstanden. Trotz der ausserordentlichen Anspannung der wirtschaftlichen und finanziellen Kräfte des Landes ist die vielfach gefürchtete Katastrophe nicht eingetreten. Natürlich ist die Finanznot, die sich bereits während des Tripoliskrieges fühlbar machte, durch den Balkankrieg stark gestiegen. Aber die erstaunliche Zähigkeit, mit der die Türkei sie ertragen hat, muss entschieden als günstiges Zukunftszeichen gelten. Auch sonst fehlt es nicht an Beweisen für eine im Kern ungebrochene Lebenskraft. Nach der vorübergehenden tiefen Niedergeschlagenheit an der Wende von 1912 und 1913 regt sich, besonders seit der Rückkehr der Jungtürken zur Regierung, überall im osmanischen Volk ein neuer frischer Geist. Wie wenig Stambul „tot“ ist, beweist die energisch betriebene Modernisierung der türkischen Hauptstadt, deren hervorragender Präfekt, Dr. Dschemil Pascha, nebenbei bemerkt ein vorzüglicher Arzt und Chirurg, in kurzer Frist mit geringen Mitteln Bedeutendes geleistet hat. Er hat damit im Kleinen bewiesen, wozu die Türken bei entsprechender rationeller Leitung fähig sind. Die erfreulichen Anfänge des neuen jungtürkischen Regimes berechtigen zu der Hoffnung, dass es imstande sein wird, die schlummernden Kräfte zur Neubelebung des Reichskörpers zu wecken.





107. Abschnitt.


Balkanstaaten und Balkanbund.
Von
Dr. Hans Uebersberger,
a. ö. Professor für Geschichte Osteuropas an der Universität Wien.


Anmerkung WS: Text ist nicht gemeinfrei, Hans Uebersberger starb 1962.


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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/363&oldid=- (Version vom 20.2.2022)