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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

derselben ein Mitbestimmungsrecht haben? Den Bundesrat kann man sich nicht als dem Organismus eines einzelnen Bundesstaats eingefügt denken; er reicht immer darüber hinaus und gehört einem Staatsverbande höherer Ordnung an. Für die Bundesregierungen hatte die Mitwirkung an der Landesgesetzgebung Elsass-Lothringens keinen politischen Wert; für die Regierung des Reichslands aber war die Notwendigkeit, zum Haushaltsetat und zu allen landesgesetzlichen Anordnungen die Zustimmung des Bundesrats herbeizuführen, eine nicht unerhebliche Erschwerung und Verzögerung der Geschäftsführung, an deren Beseitigung ihr gelegen war. Für die Bevölkerung von Elsass-Lothringen endlich musste die Ausübung von Hoheitsrechten seitens der deutschen Bundesregierungen in Landesangelegenheiten das Gefühl einer Bevormundung erregen und da etwas Ähnliches in keinem anderen Teile des Reichsgebiets stattfindet, wurde dies als eine Versagung der Gleichberechtigung empfunden. Es bestand daher ein allgemeines Einverständnis darüber, dass die Teilnahme des Bundesrats an der Landesgesetzgebung aufhöre und durch den Ausbau des Landesausschusses zu einem aus zwei Kammern bestehenden Landtag ersetzt werden soll. Mit dem Ausscheiden des Bundesrats hört auch die indirekte Einwirkung auf, welche das preussische Ministerium auf die elsass-lothringische Landesgesetzgebung und den Haushaltsetat ausübte. Denn da die Anträge beim Bundesrat in elsass-lothringischen Angelegenheiten Präsidialanträge waren und als preussische Anträge behandelt wurden, so war es ausgeschlossen, dass die preussischen Stimmen gegen dieselben abgegeben wurden; sie mussten daher, bevor sie an den Bundesrat gelangten, vom preussischen Staatsministerium geprüft und genehmigt werden. Diese Kontrolle des preussischen Ministeriums über alle Massnahmen der elsass-lothringischen Regierung war sowohl dieser als dem Landesausschuss unerwünscht.

Was vom Bundesrat gilt, trifft in der Hauptsache auch auf den Reichstag zu. Der Reichstag konnte nach seiner Zusammensetzung ebensowenig wie der Bundesrat ein Organ der Landesgesetzgebung sein; die in den Bundesstaaten gewählten Abgeordneten hatten in der Regel an den besonderen Angelegenheiten des Reichslandes kein Interesse und von den besonderen Verhältnissen und Bedürfnissen der Landesverwaltung keine unmittelbare Kenntnis. Wenn auch tatsächlich von der Befugnis, Landesgesetze im Wege der Reichsgesetzgebung zu erlassen, kein Gebrauch gemacht wurde, soweit nicht die formelle Gesetzeskraft eines Reichsgesetzes dazu nötigte, so hatte doch die Regierung die vollkommen freie Wahl, ob sie in Landesangelegenheiten den bundesstaatlichen oder den reichsländischen Weg der Gesetzgebung beschreiten, d. h. dem Reichstag oder dem Landesausschuss die Vorlage machen wollte. Die Opposition des Landesausschusses gegen Gesetzesvorschläge konnte gebrochen werden, wenn die Majorität des Reichstages zustimmte. Durch diese Möglichkeit wurde ein politischer Druck auf den Landesausschuss ausgeübt; er war weniger frei als die Landtage der Einzelstaaten. Durch das Verfassungsgesetz vom 31. Mai 1911 wurde daher diese ohnehin unpraktische Zuständigkeit des Reichstags aufgehoben.

Die grössten Schwierigkeiten machte dagegen die Gewährung von Bundesratsstimmen. Die Schwierigkeiten waren sowohl theoretischer als praktischer Art. Die Stimmführung im Bundesrat ist ein Mitgliedschaftsrecht der Bundesstaaten; sie setzt eine von der Reichsgewalt verschiedene Landesstaatsgewalt voraus; der eigene selbständige Wille der Bundesstaaten kommt durch die Abstimmung im Bundesrat zur Geltung; das Reichsland dagegen ist kein Mitglied des Bundes; es gibt in demselben keine von der Reichsgewalt verschiedene Landesstaatsgewalt. Es ist widersinnig, dass das Reich sein eigenes Mitglied ist und Rechte ausübt, welche ein von ihm verschiedenes Subjekt erfordern. Aber die Versagung von Stimmen im Bundesrat bildete ein wirksames Mittel der Agitation, der Erregung von Unzufriedenheit im Lande. Von dem praktischen Nutzen dieser Stimmen hatte die Bevölkerung keine rechte Vorstellung, aber sie begriff, dass sie den Bevölkerungen der Bundesstaaten gegenüber zurückgesetzt war, indem sie im Bundesrat keine Vertretung hatte. Da das Reichsland eine Verfassung hatte, welche der der Bundesstaaten fast ganz gleich war, so erblickte man gerade in dem Mangel an Bundesratsstimmen die Versagung der Gleichberechtigung mit den Bundesstaaten. Dass der Regierung in Strassburg die Einräumung von Bundesratsstimmen nicht unerwünscht war, ist selbstverständlich. Da der Gesetzgeber nicht genötigt ist, logisch zu sein, und die Konsequenzen eines Prinzips zu ziehen, so konnte ihn die staatsrechtliche Natur des Reichslandes nicht abhalten, demselben Stimmen im Bundesrat einzuräumen;

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/225&oldid=- (Version vom 14.9.2022)