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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

grosser, von den Fraktionen des Reichstags bereiteter Schwierigkeiten in dem Verfassungsgesetz und dem Wahlgesetz vom 31. Mai 1911 zustande kam, den auf Beseitigung derselben gerichteten Wünschen Rechnung getragen werden.

Unter diesen vier Punkten bestand aber eine sehr grosse Verschiedenheit. Der praktisch wichtigste war die Ausübung der Staatsgewalt durch den Kaiser Namens des Reichs. Solange sie bestand, war der Reichslandscharakter gewahrt und die Sicherheit geboten, dass das Interesse Deutschlands am Besitz des Reichslands nicht gefährdet werde. Solange ein vom Kaiser ernannter und durch sein Vertrauen ausgezeichneter Mann, den der Kaiser auch jederzeit abberufen kann, an der Spitze der Landesregierung steht, die höheren Beamten auf Vorschlag des Statthalters vom Kaiser ernannt werden, das Oberhaupt des Reichs die oberste Leitung und Beaufsichtigung der Landesregierung führt, ist die Gefahr ausgeschlossen, dass diese Regierung unter dem massgebenden Einfluss einer deutschfeindlichen Mehrheit der Volksvertretung steht. Die fortschreitende Entwicklung zum Parlamentarismus, welche unserer Zeit eigentümlich ist, würde in Elsass-Lothringen, so wie die Verhältnisse dort noch liegen, die Abwehr der inneren, nationalen Angliederung der elsass-lothringischen Bevölkerung an das deutsche Volk bedeuten. Es fehlte daher nicht an Versuchen, die kaiserliche Machtstellung zu beseitigen oder zu beschränken. In der Kommission des Reichstages zur Beratung des Verfassungsgesetzentwurfs wurde der Antrag gestellt, den Anfang des Gesetzes, wie folgt, zu fassen:

§ 1. Die Staatsgewalt in Elsass-Lothringen übt das elsass-lothringische Volk durch die auf Grund dieses Gesetzes berufene Regierung aus. § 2. Die Regierungsgeschäfte werden durch einen vom Landtage aus seiner Mitte mit absoluter Mehrheit gewählten Regierungsausschuss besorgt.

Der Antrag wurde allerdings abgelehnt, aber ein anderer Antrag angenommen, wonach das Gesetz mit den Worten beginnen sollte:

Elsass-Lothringen bildet einen selbständigen Bundesstaat des Deutschen Reichs.

Andere Vorschläge gingen dahin, dass der Statthalter vom Landtag mit absoluter Mehrheit auf je 5 Jahre gewählt wird und schon vorher durch Landtagsbeschluss abberufen werden könne; oder dass der Statthalter auf Vorschlag des Landtags auf Lebensdauer ernannt wird; oder dass der Statthalter auf Vorschlag des Bundesrats vom Kaiser ernannt wird und nur durch Bundesratsbeschluss abberufen werden kann und zwar nur, wenn nicht 14 Stimmen dagegen sind. Es wurde ferner beantragt, dass nicht der Kaiser, sondern der Statthalter „die Minister ernennen und entlassen solle“. Man wollte den Statthalter möglichst unabhängig vom Kaiser und möglichst abhängig von der Landtagsmehrheit machen und man wollte ein Ministerium haben, welches dieser Mehrheit entnommen oder ihr genehm ist und nach der Pfeife dieser klerikaldemokratischen Mehrheit tanzt, namentlich bei der Besetzung der Ämter deutsche und deutschfreundliche Elemente ausschliesst. Es ist selbstverständlich, dass die Regierung auf solche Anträge nicht eingehen konnte und dass das ganze Reformwerk hätte scheitern müssen, wenn sie zum definitiven Beschluss des Reichstags erhoben worden wären. Das schliessliche Resultat war auch, dass an der Stellung des Kaisers, des Statthalters und dem Recht der Ernennung der Beamten nichts geändert wurde. Nur wurden die schlecht gefassten Vorschriften des Gesetzes vom 4. Juli 1879, welche den Statthalter betreffen, verbessert, näher präzisiert und mit Rücksicht auf die anderweitigen Veränderungen der Landesverfassung ergänzt.

Anders verhielt es sich mit dem Bundesrat. Theoretisch entsprach zwar sein Zustimmungsrecht zu allen Landesgesetzen und Rechtsverordnungen des Kaisers der Reichslandseigenschaft und dem Anteil aller Bundesstaaten an der Reichsgewalt; aber praktisch hatte die Betätigung dieses Rechts keinen Nutzen, wohl aber Nachteile und Schwierigkeiten zur Folge. Der Bundesrat ist nach seiner Zusammensetzung und nach dem ihm zugrunde liegenden Begriff zur Behandlung der besonderen Angelegenheiten der einzelnen Staaten ungeeignet und dies trifft auch auf die Landesangelegenheiten des Reichslands zu. Wie ist es sachlich zu rechtfertigen, dass die Regierungen aller deutschen Einzelstaaten, welche an diesen Angelegenheiten nicht das geringste Interesse haben und mit den Bedürfnissen der Landesverwaltung nicht vertraut sind, bei Regelung

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 208. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/224&oldid=- (Version vom 14.9.2022)