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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Siebzehntes Hauptstück.


Grenzlande und Kolonien.




91. Abschnitt.


Die Reform der Verfassung Elsass-Lothringens.
Von
Exzellenz Wirklichem Geh. Rat Dr. Paul Laband,
o. Professor der Rechte an der Universität Strassburg.


Das Reichsgesetz vom 9. Juni 1871 über die Vereinigung von Elsass und Lothringen mit dem Deutschen Reich bestimmte im § 2, dass die Verfassung des Deutschen Reichs in Elsass und Lothringen am 1. Januar 1873 in Wirksamkeit trete. Dieser Termin wurde auf den 1. Januar 1874 verlegt; doch wurden einzelne Abschnitte der R.V. schon vorher in Geltung gesetzt. Hierdurch wurde in die Verfassung von Elsass-Lothringen ein Gegensatz gebracht, welcher die Quelle vieler Schwierigkeiten der Praxis und Theorie war und dem staatsrechtlichen Zustande Elsass-Lothringens den Charakter des Provisoriums aufdrückte. Denn die Reichsverfassung setzt Staaten mit einer eigenen, von der Reichsgewalt verschiedenen Staatsgewalt voraus, welche hinsichtlich aller der Zuständigkeit des Reichs nicht unterliegenden Angelegenheiten Autonomie, Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit haben. Diese Teilung der Zuständigkeit und der ihr entsprechenden Hoheitsrechte (Staatsgewalt) ist für den Begriff des Bundesstaats das wesentliche Merkmal. Der Begriff des Reichslandes steht dazu im diametralen Gegensatz; er beruht gerade darauf, dass es für das Reichsland keine besondere, von der Reichsgewalt verschiedene Staatsgewalt gibt, dass die Reichsgewalt die volle Staatsgewalt ist, dass ihre Zuständigkeit nicht auf gewisse Angelegenheiten beschränkt ist, dass es keine Landesangelegenheiten gibt, welche nicht Reichsangelegenheiten wären. Eine wirkliche, nicht bloss formelle, Geltung der Reichsverfassung hätte daher erfordert, dass das Reichsland zu einem Staat gestaltet, d. h. eine vom Reich verschiedene, in ihrem Kompetenzkreise dem Reich gegenüber selbstständige Staatsgewalt geschaffen worden wäre. Die Einführung der Reichsverfassung hatte aber zunächst die entgegengesetzte Wirkung; sie schloss die Bildung selbständiger, vom Reich unabhängiger Organe der Landesregierung aus. Da alle Angelegenheiten des Reichslandes Reichsangelegenheiten waren, so erstreckte sich die Zuständigkeit der Organe und Behörden des Reichs auf sie. Kaiser, Bundesrat, Reichstag, Reichskanzler nebst dem Reichskanzleramt und Reichsjustizamt, Reichsoberhandelsgericht, Rechnungshof übten Funktionen aus, welche in den Bundesstaaten den Landesbehörden obliegen. Die Reichslandseigenschaft und der Gegensatz gegen die Bundesstaaten

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/219&oldid=- (Version vom 14.9.2022)