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so gross sein, dass sie selbst sehr starke Wirtschaftlichkeit in den anderen Richtungen überwiegt und trotz ihrer zur Verarmung führt. Beim verarmenden Bevölkerungsteil, wie bei den wirklich Armen und Unterstützten, werden daher in nicht geringem Masse wirtschaftliche Fähigkeiten in gewissen Beziehungen vorhanden sein. Brauchbare, sogar tüchtige und hervorragende Arbeiter irgend eines Faches sind nicht selten in Hinsicht ihres Haushaltes und ihres Erwerbes so unwirtschaftlich, dass sie trotz jener Wirtschaftlichkeit verarmen. Ähnliche Kombinationen sind vielfach vorhanden. Die Verarmung beruht meistens nicht auf einer allgemeinen Unwirtschaftlichkeit in jeder Hinsicht, sondern auf einer Mischung von Wirtschaftlichkeit und Unwirtschaftlichkeit. Je mit der Änderung des Wirtschaftssystems im ganzen wie im einzelnen ändern sich diese Beziehungen der verschiedenen Wirtschaftlichkeit, so dass die Armen zu einer Zeit ganz anders geartet sind wie in der anderen. Gewisse Kreise, die unter der einen wirtschaftlichen Form sehr leicht und sicher ihre Selbständigkeit bewahrten, werden unter einer anderen Form, ohne dass sich ihre Wirtschaftlichkeit im geringsten geändert hätte, dazu nicht mehr imstande sein, vielleicht sogar rettungslos öffentlicher Fürsorge verfallen. Die Einwirkung der Freiheit auf wirtschaftlichem Gebiete gehört zu den am meisten nach dieser Hinsicht erörterten Erscheinungen; vielen, die vorher nicht wirtschaftlich selbständig werden konnten, öffnet sie die Bahn zur Selbständigkeit, zahlreiche andere, die zuvor auf eigenen Füssen stehen konnten, reisst sie in den Strudel der Verarmung hinab. Die Wandlungen des Handwerks im letzten Jahrhundert geben theoretisch wie praktisch in der Fürsorgearbeit hierfür allbekannte Beispiele genug.

Eine Erforschung dieser Vorgänge muss die Grundlage schaffen für eine Armenpolitik. An dieser Stelle kann nur in der Literaturangabe auf einige der neueren Untersuchungen dieser Fragen verwiesen werden, die indessen nur als Anfang zu betrachten sind. Immerhin wird man annehmen dürfen, dass an Stelle der malthusischen Voraussetzungen unter anderem folgende treten dürften:

Unter den Armen sind in reichlichem Masse wirtschaftlich brauchbare Personen vertreten, die nur unter dem augenblicklichen Wirtschaftssystem nicht zu einer genügenden Verwertung ihrer wirtschaftlichen Kräfte gelangen können.

Die Verarmung durchsetzt den ganzen Gesellschaftskörper von oben bis unten; alle Schichten und Stände sind selbst in der untersten Schicht der öffentlich unterstützten Armen vertreten.

Die Verarmung verschiedener Zeiten ist je nach dem Wirtschaftssystem ein anderer Vorgang; die Armen von heute sind anders geartet und andere Leute als die Armen von gestern.

Die Fürsorge hat daher im Laufe der Zeiten verschiedene Aufgaben vor sich und bedarf stets neuer Mittel zu ihrer Durchführung; immer aber wird ihre Aufgabe sein, den unwirtschaftlichen Teil der Bevölkerung zu versorgen. Diese Aufgabe kann sich aber nicht, wie man oft schliesst, auf eine besondere Art der Einkommensverteilung beschränken, sondern sie wird viele andere Gebiete in Betracht ziehen müssen. Im allgemeinen umfasst sie:

1. Versorgung der ganz unwirtschaftlichen Armen, bei denen von irgend welcher wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Leistung nicht mehr die Rede sein kann: Geisteskranke und unheilbare anderer Art, Alte und Invalide.

2. Erziehung der vorübergehend unwirtschaftlichen, die durch richtige Unterbringung und Erziehung wieder zur eigenen Selbständigkeit geführt werden können.

3. Verwertung der wirtschaftlichen Seiten der teilweise unwirtschaftlichen Armen, mehr oder minder mit deren Versorgung verbunden.

Gerade die letzte Aufgabe, so vielfältig sie von der Fürsorge in diesem oder jenem Stück in Angriff genommen wurde, ist bisher als eigene, vollberechtigte Aufgabe der Fürsorge nicht anerkannt worden. In dieser Forderung weicht alle moderne Fürsorge am weitesten von der älteren, im vorigen Jahrhunderte herrschenden Ansicht über das Armenwesen ab. Der Hauptfortschritt der Fürsorge im letzten Jahrhundert bestand darin, grosse Teile von Armen der ersten Gruppe, die vorher nur der Versorgung zugänglich waren zur zweiten Gruppe zu überführen. Das ist aber längst nicht in dem Umfange möglich gewesen, wie man es zeitweise gehofft hat. Viele Blinden, um dieses einfachste Beispiel zu wählen, sind obwohl sie zu wirtschaftlichen Leistungen guter Art herangebildet

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/207&oldid=- (Version vom 4.12.2021)